Im September erschien in Skywings, dem Journal des britischen Drachen- und Gleitschirmverbandes BHPA, ein Meinungsartikel unter dem Titel "EN-lightenment". Darin klagte der Autor Kelly Farina darüber, dass die EN-B-Klasse viel zu breit geworden sei. Der Trend zu einer immer höheren Streckung führe dazu, dass manche Schirme einen durchschnittlichen Freizeitpiloten schnell überforderten. Möglich sei dies auch deshalb, weil die Hersteller bei den EN-Tests schummelten, so Farina. In der aktuellen Skywings-Ausgabe erschien hierzu eine Replik, geschrieben von Philipp Medicus, dem Konstrukteur von Nova. Der Text ist interessant, weil er aufzeigt, wo auch Hersteller Probleme der aktuellen EN-Zertifizierung sehen. Mit Philipps Zustimmung erscheint der Beitrag hier in deutscher Übersetzung (wobei der Titel dieses Posts nicht dem Original entspricht):
Philipp Medicus // Foto: Nova |
Genauso ist es eine Tatsache, dass alle Flugtests immer auch eine Grauzone besitzen werden. Ein erfahrener Testpilot kennt viele verschiedene Möglichkeiten, um einen Klapper hervorzurufen. Scheinbar kleine Details können große Unterschiede bedeuten. Zum Beispiel: Wann man sein Gewicht verlagert, oder in welche Richtung (nur nach unten, nach einwärts-unten etc.) man die A-Gurte zieht.
Ein erfahrener Testpilot kann einen Schirm in Bezug auf die EN-Norm gut oder schlecht aussehen lassen. Und dabei spreche ich nicht von Highlevel-B-Schirmen, die im Testprotokoll ein oder zwei C-Noten hätten bekommen können. Ich spreche hier von B-Schirmen, die sogar jenseits der D-Klasse einzustufen wären, wenn man sie nur etwas anders getestet hätte.
Früher, als der DHV noch sein Monopol hatte, achtete dessen Musterprüfstelle - die einzige, die es gab -, möglicherweise stärker auf die Schwachpunkte der getesteten Schirme. Wenn ein Testpilot eine Schirmreaktion als potenziell gefährlich einschätzte, fiel der Schirm beim Test durch. Und das auch dann, wenn der Schirm dieses Verhalten nur in zwei von zehn Fällen zeigte.
Heute haben wir konkurrierende Musterprüfstellen. Diese Entwicklung hat die Motivation der Tester und Testpiloten verändert. Viele der Testpiloten arbeiten als freie Mitarbeiter. Es ist nahe liegend, dass sehr strenge Tests auf Dauer nicht zu mehr Kunden (und mehr Einnahmen) führen. Wenn also ein Schirm ein möglicherweise gefährliches Verhalten zeigt - auch nur in zwei von zehn Fällen -, wird die Einschätzung heute wahrscheinlich etwas anders ausfallen als beim zuvor beschriebenen Testpiloten.
Meiner Meinung nach ist es sehr schwer eine Lösung für dieses Problem zu finden. Man kann es sicher nicht dadurch lösen, dass man die Testkriterien verschärft, indem man beispielsweise das zulässige Abdrehen der Kappe nach einem Klapper weiter begrenzt. Das Problem der Grauzone bleibt ja auch dann bestehen. Und ich sehe keine Möglichkeit, dieses Problem in einem akzeptablem Ausmaß einzudämmen.
Aus der Sicht eines Herstellers halte ich es nicht für clever, auf lange Sicht B-Schirme mit einer hohen Streckung zu verkaufen. Deshalb haben wir die Streckung selbst in der fünften Generation unserer Highlevel B-Schirme (Mamboo und dann Mentor 1 bis Mentor 4) nicht erhöht. Der Mentor 4 richtet sich an die gleiche Pilotengruppe wie schon Mentor 3, Mentor 2 und Mentor 1. Dementsprechend ist er nicht anspruchsvoller zu fliegen. Auf Dauer wäre es ja irrsinnig die Ansprüche an die Piloten ständig zu erhöhen. Wer wäre dann noch fähig, einen Mentor 8 zu fliegen?
Ich hoffe, dass Piloten und Hersteller beginnen, sich nicht mehr so stark auf die EN-Zertifizierung zu fokussieren. Ich kann jeden Piloten voll verstehen, der eine unabhängige Einschätzung eines Schirmes haben will, dem er ja sein Leben anvertraut. Aber selbst in einer Welt mit perfekt ausgeführter Zertifizierung würde das EN-Rating nichts über die Stabilität eines Schirmes in Turbulenzen aussagen, was ja entscheidend ist für die Sicherheit. Hier müssen die Hersteller ihre Hausaufgaben machen. Und es gibt noch eine Reihe weiterer wichtiger Eigenschaften, welche die EN-Tests niemals testen können.
Zusammenfassend gilt: Die Zertifizierung mittels EN-Flugtests wird von den meisten Piloten eindeutig überschätzt. Ein EN-B oder EN-D sagt sehr wenig über die Sicherheit eines Schirmes aus. Jeder Hersteller weiß weitaus mehr über die Sicherheit seiner Schirme als die EN-Tests jemals aufzeigen können.
Ich hoffe, dass in Zukunft mehr und mehr Piloten das erkennen werden. Und ich gehe davon aus, dass die meisten Hersteller damit auch verantwortungsvoll umgehen. Wie ich schon sagte, wäre es auf lange Sicht verrückt mit jedem Nachfolger die Ansprüche an die Piloten eines Flügels zu erhöhen. Es könnte sein, dass der Trend zu stark gestreckten B-Schirmen schon wieder nahezu vorbei ist. -- Philipp Medicus
7 Kommentare
Wieder einmal ein sehr interessanter Beitrag. Danke Lucian.
AntwortenLöschenPhilipps Ausführungen sind sehr lesenswert und ich kann ihnen auch in vielen Punkten zustimmen.
Wo ich allerdings etwas anderer Meinung bin ist bei der Aussage, es sei "nahe liegend, dass sehr strenge Tests auf Dauer nicht zu mehr Kunden (und mehr Einnahmen) führen."
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass durch erhöhte Sensibilisierung der Piloten zu diesem Thema, die ja zunehmend erfolgt, auch die Nachfrage nach einem echten "Gütesiegel" (zurück)kommen könnte. Also nach einem Test, der mehr Rückschlüsse zulässt, als nur die EN-Zertifizierung. Es könnte sich also als Wettbewerbsvorteil für eine Teststelle herausstellen, für den die Kunden möglicherweise sogar bereit wären mehr zu bezahlen.
Natürlich muss auch gesagt werden, dass solche Tests, Siegel und Berichte niemals Probeflüge ersetzen können. Schließlich fliegt ja jede Schirm-Gurtzeug-Pilot-Luft-Kombination anders. Und auch wenn heutzutage gerne ausgelagert wird: Die Verantwortung für sein Leben trägt immer noch jeder Pilot selbst.
@David: Die Safety-Tests des DHV gehen ja ein bisschen in diese Richtung. Beim DHV gab es auch schon Diskussionen dazu, wieder ein strengeres DHV-Gütesiegel aufleben zu lassen. Hersteller könnten sich dem freiwillig unterziehen, um dann mit einer Art "approved by DHV" werben zu können. Ob so etwas wirklich kommt? Die Hersteller hätten ja viel lieber, dass die Piloten ihnen direkt vertrauen, wie ja auch aus Philipps Ausführungen heraus zu lesen ist...
AntwortenLöschenLaut Nova Website hat der Mentor3 eine ausgelegte Streckung von genau 5; der Mentor4 aber 5,45.
AntwortenLöschenDas ist durchaus eine andere Hausnummer. Zum Beispiel hat ein Mojo4 auch Streckung 5.
Da ich Pipo aber glaube, schätze ich dass "Streckung gleich" soviel bedeutet wie "Streckung immer noch im konstruktiv nicht ausgereizten Bereich". Wer weiß.
Nichtsdestoweniger ist die Zertifizierung tatsächlich ein schlechter Ratgeber, was die reale Schirmsicherheit angeht.
Deine Tests gehen ja auch nicht auf die Sicherheit ein. Bin ich auch froh, weil du dich so auf deine Beschreibungen vom Handling
konzentrieren kannst. Und die sind deutlich aussagekräftiger als die vom Hersteller oder den Magazinen.
Nur ist das wirkliche Testen der Sicherheit eine komische Sache, denn auch die aufwändigen SafetyClass Tests bewerten passives Schirmverhalten von mit der Hand gezogenen Klappern.
Im Cröniger Vortrag geht es beim Seitenklapper um aktives Verhalten. Bei den neuen Schirmen sagt er, solle man abwarten bis der Schirm schießt. Dann aber richtig tief bremsen.
Solche Beschreibungen vom charakteristischen Klappverhalten finde ich bei den Herstellern aber nicht. Wo findet sich so etwas?
Sebastian, ich weiß nicht wo Du die "genau 5" beim Mentor 3 gelesen haben willst. Beim Mentor 3 light steht auf der Nova Website eindeutig 5,43 als ausgelegte Streckung, also tatsächlich das gleiche, was auch beim Mentor 4 steht. Mentor 4 hat nur eine etwas größere projizierte Streckung (3,95 vs 3,90) infolge einer leicht reduzierten Kappenkrümmung.
AntwortenLöschenHier steht es so:
AntwortenLöschenhttps://www.nova-wings.com/en/gliders/previous-gliders/mentor-3/
Aber das stimmt dann eher nicht. Das wäre auch wirklich sehr wenig gewesen.
also doch DHV -hat uns seit zwanzig jahren immer gut beraten.
AntwortenLöschenPs. Testpiloten sind auch Menschen ABER sie sollen von neutralen Stellen (gut) bezahlt werden.
Was nützt ein Gütesiegel, welches Schirme wie einen Carrera und schulungsraugliche Schirme in die gleiche Klasse einreiht? Absolut rein gar nichts!
AntwortenLöschenDie DHV-Safetytests scheinen mir das zur Zeit bestmögliche objektive Bewertungsverfahren zu sein. Müsste man nur noch auf dieser Grundlage die Kriterien für die Gütesiegelklassen neu definieren.
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