Damit Gleitschirme auf den Markt kommen dürfen, müssen sie einige Sicherheitsvorgaben einhalten. Die dafür nötigen Tests sind europaweit in den sogenannten EN-Normen festgeschrieben. Allerdings gibt es, was vielen Piloten gar nicht bewusst ist, zwei unterschiedliche Normensätze. Der erste trägt das Kürzel EN 926-1, der zweite EN 926-2. Über die Gleitschirme machen sie ganz unterschiedliche Aussagen.

EN 926-1 beschreibt nur die Lasttests, die ein Gleitschirm erfolgreich aushalten muss, damit eine flugtaugliche Festigkeit von Tuch und Leinen in der verarbeiteten Form festgestellt ist.

EN 926-2 wiederum beschreibt alle Flugtests, die bestanden werden müssen, um den Gleitschirm in eine der vier Sicherheitskategorien A, B, C, D einzustufen. (Anm.: In Deutschland ist korrekterweise nicht die EN 926-2 sondern die LTF die einzuhaltende Norm. Allerdings sind LTF und EN 926-2 heute schon weitgehend identisch, und 2013 werden auch die verbliebenen Unterschiede getilgt. Aus diesem Grund nenne ich hier EN 926-2 synonym mit LTF).

Wer in Deutschland legal mit einem Gleitschirm fliegen will, der kann dies nur mit Schirmmodellen tun, die sowohl die Lasttests als auch die Flugtests erfolgreich bestanden haben. Wer mit einem Gleitschirm mit absolviertem Lasttest, aber ohne EN 926-2 Zertifizierung unterwegs ist, begibt sich in die Illegalität. Ein solcher Flug mit einem "Gerät ohne Musterprüfung" könnte laut geltendem Recht als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Zudem riskiert der Pilot im Schadensfall die Kostendeckung durch seine Versicherung.

EN 926-2 hat Grenzen

Nun zeigt sich allerdings in der Praxis ein Dilemma mit den zwei EN-Normen. Denn die Gleitschirmentwicklung erlebt derzeit eine zunehmende Diversifizierung. Neben den klassischen Gleitschirmen gibt es Speedglider, Mini-Wings, Single-Surface-Segel usw. Diese speziellen Schirme können zwar problemlso so gebaut werden, dass sie die EN 926-1 (Lasttest) einhalten. Aber bei den Flugtests der EN 926-2, die auf "normale" Gleitschirme hin ausgerichtet sind, stoßen sie häufig an die Grenze der Zulassungsfähigkeit.

Beim Einfachsegel XXlite von Ozone zum Beispiel kann über die Bremsen die Geschwindigkeit nur in einem Rahmen kleiner als 10 kmh variiert werden. Die EN 926-2 schreibt allerdings ein erfliegbares Geschwindigkeitsfenster von mindestens 10 kmh vor. Ergebnis: Den XXlite gibt es nur mit EN 926-1. Ein anderer Fall sind Schirme mit kurzen Leinen und kleinen Flächen, wie zum Beispiel die Modelle von Little Cloud. Die gehen bei normgerechter Einleitung einer Spirale so schnell auf "Tauchstation" mit enormen Sinkwerten, dass auch das kaum in der EN 926-2 darstellbar ist. (Anm.: Durch die kurzen Leinen sind zwar die G-Belastungen, die selbst bei starkem Spiralsturz auf den Piloten einwirken, deutlich geringer als bei normalen Schirmen, aber dieser Sicherheitsvorteil fließt nicht "mildernd" in die Bewertung ein).

Nun könnte man meinen, dass die Hersteller ein Interesse daran haben sollten, ihre Modelle so zu bauen, dass sie auch in die EN 926-2 passen, um sie besser verkaufen zu können. Allerdings: Es gibt kein Recht, dass den Herstellern verbietet, Gleitschirme zu verkaufen, die nur einen Lasttest absolviert haben. Erst der Pilot, der damit in Deutschland fliegt, begibt sich ja hierzulande in die Illegalität (in anderen Ländern sieht das anders aus). Und wenn die Nachfrage stimmt, wird sich auch jemand finden, der liefert.

Tatsächlich nimmt die Zahl der Schirmmodelle am Markt mit "nur" EN 926-1 (Lasttest) im gleichen Zuge zu wie offenbar die Bereitschaft vieler Piloten in Deutschland, sich dieses Recht auf "vol libre" mit einem Schulterzucken (und manchmal sicher auch nur Unwissenheit) selbst zuzugestehen - und sei es nur für den Zweitschirm zum gelegentlichen Hike and Fly von "wilden" Startplätzen.

Ein Trend mit Kehrseiten

Da führt zum einen zu einer Verzerrung des Marktes. Denn je bereitwilliger Piloten Schirme kaufen, die nur den Lasttest absolviert haben, desto attraktiver wird es für weitere Hersteller, auf diesen Zug aufzuspringen. Zumal ihnen der Verzicht auf einen umfangreichen Test nach EN 926-2 einiges an Entwicklungsarbeit und Zulassungskosten ersparen kann. Schirme allein nach EN 926-1 zuzulassen eröffnet Möglichkeiten, auch mit Kleinserien gewinnbringend auf den Markt zu kommen - und das mit sehr konkurrenzfähigen Preisen, oder halt mit entsprechend größerer Gewinnmarge für den Hersteller. Diese Entwicklung könnte auf Dauer die bewährten EN-Flugtests samt der sinnvollen Sicherheitseinstufung für den Piloten untergraben.

Zum anderen droht ein potenzieller Sicherheitsverlust. Die meisten Firmen investieren sicherlich viel Entwicklungszeit darauf, auch die nur mit EN 926-1 getesten Schirme mit guten Flugeigenschaften samt sicherem Klappverhalten etc. auszustatten. Doch dem Piloten bleibt letztendlich nur, auf seine Marke zu vertrauen. Und vielleicht sind manche Firmen ohne den Druck der offiziellen EN-Flugtests im Rücken eher gewillt, auch solche Schirme auf den Markt zu bringen, die vielleicht noch nicht ganz ausgereift sind. Jeder neue Proto kostet schließlich Geld. Denkbar ist auch, dass ein Schirm in bestimmten Flugsituationen oder bei bestimmten Flugfiguren (z.B. Steilspirale), Eigenschaften an den Tag legt, die der Pilot aus der Erfahrung mit sonstigen EN-Klassen typischerweise so nicht erwartet.

Es könnte auch versicherungstechnische Probleme geben. In den wenigsten Fällen dürfte in den Versicherungsbedingungen von Haftpflicht-, Unfall- und Berufsunfähigkeitsversicherungen, die Gleitschirmfliegen mit einschließen, die Zulassungsbedingungen für die Schirme exakt definiert sein. Der Einsatz von Schirmen mit nur EN 926-1 könnte freilich den Versicherungen neue Schlupflöcher bieten, um sich im Schadensfall aus der Leistungspflicht zu stehlen. Je mehr solcher Schirme auf dem Markt sind und je häufiger es deshalb auch zu Unfällen damit kommt, desto eher könnten die Versicherungen künftig gewillt sein, die Einhaltung von Zulassungsregeln durch den verunfallten Piloten viel kritischer zu prüfen.

Bleibt am Ende die Frage, ob man nicht auf irgendeine Weise das Fliegen mit Schirmen ohne EN 926-2 in Deutschland dennoch legal betreiben könnte? Versicherungstechnisch lässt sich das zum Teil lösen. Z.B. gib es Haftpflichtversicherungen für Gleitschirme, die explizit auch Speedglider und Miniwings mit einschließen. Schwieriger wird es in puncto Legalisierung des Flugbetriebs. Die einzige Ausnahme, die der Gesetzgeber hier zulässt, sind Erprobungsflüge von Fluggeräten, für die eine allgemeine Zulassung erst noch angestrebt wird. Der Pilot braucht dafür ein schriftliches Dokument des Herstellers, der ihm persönlich bescheinigt, diesen Schirm zu Testzwecken für die Breitenerprobung zu fliegen. (Anm: Früher konnte man eine solche Erlaubnis zu Breitenerprobung offiziell beim DHV beantragen. Doch seit 2010 ist das nurmehr direkt beim Hersteller möglich). In Einzelfällen ist so ein Schrieb auch sicher zu bekommen. Allerdings dürften manche Hersteller wohl Rechtfertigungsprobleme bekommen, wenn die Zahl der "Testpiloten" plötzlich jenseits aller Vernunft liegen sollte oder wenn Schirme konzeptbedingt erkennbar nach den gültigen Normen nicht zulassungsfähig sind.

Ausblick

Um weitere Entwicklungen im Gleitschirmbau nicht durch dieses EN-Normen-Dilemma auszubremsen und den Piloten legale Flugmöglichkeiten zu eröffnen, ist es an der Zeit, über eine Reform der EN 926-2 nachzudenken. Es wäre sinnvoll, innerhalb der Norm eine neue oder mehrere neue Klassen einzuführen neben den bestehenden EN-A bis EN-D. Denkbar wäre z.B. die Klasse EN-F, wobei man F als "fast" oder "furious" verstehen könnte. Damit könnten Schirme zertifiziert werden, die in einem oder mehreren Flugmanövern die klassische EN-Einstufung verfehlen, weil ihre Reaktionen aufgrund der kleineren Flächen und höheren Flächenbelastung deutlich schneller erfolgen, die ansonsten aber als sicher einzustufen sind. Mit der entsprechenden Aufklärung der Piloten über die gerätespezifischen Grenzfälle wäre allen Seiten weitergeholfen.