Alle Folgen der Serie gibt es hier: Serie Retterwissen.
Die meisten Retter entwickeln beim Sinken eine Vorwärtsfahrt, vor allem wenn der Gleitschirm den Schwerpunkt des Systems beeinflusst. // Quelle: Youtube, Screenshot, bearbeitet |
Die sichtbare Drift kann mehrere Ursachen bzw. Einflussgrößen haben. Zum einen sorgt einfach der vorherrschende Wind dafür, dass der Retter sich auch seitwärts bewegt. Diese Form der Abdrift ist freilich naturgegeben und soll deshalb hier nicht weiter betrachtet werden – zumal sie keinen direkten Einfluss auf das Sinkverhalten des Retters hat.
Zum anderen können kleine oder größere Asymmetrien im Aufbau des Retters bzw. des Pilotenschwerpunktes unter dem Retter dafür sorgen, dass der Rettungsschirm die unter ihm gestaute Luft bevorzugt an einer Seite ausbläst. In der Folge nimmt der Schirm in die entgegen gesetzte Richtung Fahrt auf. Das seitliche Gleiten durch die Luft führt in der Regel dazu, dass der Retter dabei einen gewissen Auftrieb entwickelt, der die senkrechte Sinkgeschwindigkeit reduziert.
Eine gewisse Vorwärtsfahrt ist nicht nur deshalb an sich nichts schlechtes. Bei der Landung auf einem freien Feld beispielsweise kann ein leichtes seitliches Driften dem Piloten sogar helfen, den Stoß abzufedern bzw. durch ein seitliches Abrollen besser abzufangen (der kontrollierte Landefall wird noch Thema einer kommenden Folge der Retterwissen-Serie sein).
Die Vorwärtsfahrt hilft auch dabei, den Sinkpfad eines Retters zu stabilisieren. Rettungsschirme ganz ohne Vorwärtsfahrt tendieren dazu, die gestaute Luft abwechselnd auf der einen und der anderen Seite abzublasen und deshalb mehr oder weniger stark zu pendeln. Das gerichtete Gleiten eines Retters wirkt als Pendelbremse.
Dennoch kann man sich auch Situationen vorstellen, in denen die Vorwärtsfahrt das Verletzungsrisiko für den Piloten erhöht. Wer mit 2 bis 3 m/s seitlich gegen einen Hindernis fliegt, z.B. einen Heuschober, kann sich dabei durchaus Knochenbrüche zuziehen. Und wenn man mit zusätzlicher Vorwärtsfahrt so gegen einen Hang trifft, dass der reale Sinkpfad senkrecht dazu steht, wird sich durch die Vorwärtsfahrt die Last, die der Körper abfangen muss, deutlich erhöhen.
Problematisch kann ein stärkeres Gleiten auch werden, wenn der Pilot seinen Retter über einer vermeintlich sicheren Landezone geworfen hat (z.B. einem See beim Sicherheitstraining), dann aber feststellen muss, dass der Retter ihn durch seine Drift in unsicheres Terrain (z.B. ein Siedlungsgebiet) trägt. Das sind die Momente, in denen sich die Betroffenen dann wünschen, ihre Rettung wäre steuerbar. (Auf das Thema Steuerbarkeit wird eine weitere Retterwissen-Folge noch eingehen.)
Scherenstellung mit einer zu klein gewählten Rundkappe. // Quelle: Vimeo, Screenshot |
Durch die Schrägstellung verringert sich die bremsende, senkrecht projizierte Fläche des Retters und das Sinken nimmt zu, wodurch der Gleitschirm wiederum noch mehr Energie fürs Fliegen erhält. So kann sich ein Kräftegleichgewicht ergeben, bei dem Gleitschirm und Retter sehr stabil, aber weit auseinander gezogen mit hoher Geschwindigkeit Richtung Boden "fliegen". Der Pilot hängt dabei häufig sogar in Rücklage im Gurtzeug, ohne eine Chance, sich komplett aufzurichten. Dadurch erhöht sich das Verletzungsrisiko weiter. (Welche Faktoren eine Scheren-Stellung begünstigen und wie man diese verhindern bzw. auflösen kann, werde ich in einer weiteren Retterwissen-Folge beschreiben).
Vorwärtsfahrt wird nicht gemessen
Wie hoch die Vorwärtsfahrt eines Rettungsschirmes ist, darüber gibt es kaum offizielle Angaben. Laut LTF-Anforderungen dürfte ein Schirm, der nicht steuerbar ist, von sich aus gar keine Vorwärtsfahrt entwickeln. Ansonsten müsste er steuerbar sein. Die EN-Norm wiederum hält bis zu 5m/s als Vorwärtsfahrt für zulässig. Allerdings: Keine der Zulassungsstellen ermittelt überhaupt genaue Werte der Vorwärtsfahrt. Im Endeffekt gibt es auf dem Markt viele Retter (sowohl mit EN wie LTF-Zulassung), die mehr oder weniger stark ins Gleiten kommen und dabei nicht steuerbar sind. Doch nur wenige Hersteller geben das auch offiziell so an oder nennen gar Geschwindigkeitswerte für die Vorwärtsfahrt.
Die mangelnden Informationen zur Vorwärtsfahrt führen zu einem Problem für die Piloten: Beim Rettertest der Zulassungsstellen werden die Sinkwerte immer mit abgetrenntem Hauptschirm ermittelt. Der Pilot hängt also stets im Schwerpunkt unterm Retter. Wenn ein Rettungsschirm in dieser Formation schon Vorwärtsfahrt und dabei etwas Auftrieb entwickelt, kann dies die gemessenen Sinkwerte reduzieren. So können auch Retter mit einer relativ kleinen Fläche den EN-Grenzwert von 5,5 m/s schaffen. Die Vorwärtsfahrt "schönt" gewissermaßen die Ergebnisse.
In der Praxis werden die wenigsten Piloten ihren Gleitschirm im Notfall aber komplett abtrennen wollen und können. Der Gleitschirm wird dann immer als Schleppwiderstand den Anstellwinkel und das Sinkverhalten des Retters beeinflussen. Hemmt er zum Beispiel einen zum Gleiten tendierenden Retter daran, Fahrt aufzunehmen und ins Gleiten zu kommen, wird die damit verbundene Auftriebskomponente des Retters deutlich kleiner ausfallen und das Sinken zwangsläufig größer.
Die aerodynamischen Wechselwirkungen von Retter und Gleitschirm, gerade hinsichtlich der Vorwärtsfahrt, sind sehr komplex. Hier abzuschätzen, wie sich ein Retter tatsächlich in der Praxis verhält, ist allein anhand der veröffentlichten Retterdaten nicht möglich. Als einfache Daumenregel zur eigenen Sicherheit gilt freilich auch in diesem Punkt: Je größer der Retter, desto kleiner wird dessen Flächenlast, und desto geringer wird auch Vorwärtsfahrt wie Sinken ausfallen. Etwas mehr Fläche wird selten schaden!
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18 comments
Danke für den Artikel!
AntwortenLöschenDie X-Triangle wird damit beworben, dass sie nur auf Wunsch Vorwärtsfahrt aufnimmt, wenn man sie aktiv durch steuern einleitet. Wenn das so stimmt, wäre das Problem Vorwärtsfahrt gelöst.
Der Konstrukteur hält seine Erfindung natürlich für so perfekt wie sich selbst. Gibt es unabhängige Erfahrungen mit dem System?
Probier's doch aus, mach selber unabhängige Erfahrungen und berichte dann! Man muss nicht immer den anderen den Vortritt lassen. Oder hast Du Angst das System könnte womöglich so gut sein wie der Konstrukteur verspricht?. Dann müsste man möglicherweise auf so unqualifizierte Einwürfe verzichten.
AntwortenLöschenGruß
HJ
Geile Initialen. Warum verzichte ich eigentlich immer auf meine?
AntwortenLöschenLieber Lucian, vielen Dank fuer die Artikelreihe, die durchaus interessant ist. Ich glaube aber, dass im letzten Artikel ein Punkt etwas missverständlich ist:
AntwortenLöschenDas größte Problem, das sich aus der Vorwärtsfahrt von Rettungsschirmen ergeben kann, ist allerdings die sogenannte Scheren-Stellung.
Die Scherenstellung gibt es auch bei klassischen Rundkappenrettern mit den gleichen Problemen (z.B. höhere Sinkgeschwindigkeit). Ob man das durch Trennen oder Einholen des Hauptschirmes beheben soll/muss ist eine ganz andere Geschichte.
@Markus: Wieso missverständlich? Ich habe nicht umsonst zur Illustration der Scheren-Stellung ein Bild mit einer (zu kleinen) Rundkappenrettung genommen. Die Scheren-Stellung kann sich mit allen Arten von Rettern ergeben - wenn die Parameter passen. Angesichts der stark erhöhten Sinkgeschwindigkeit wäre es immer sinnvoll, eine Scherenstellung zu vermeiden oder - wenn möglich - aufzulösen. Dazu muss man den Hauptschirm nicht zwangsläufig komplett Trennen oder komplett Einholen, aber möglichst das Profil "deaktivieren". Grundsätzlich ist es hilfreich, von vornherein einen Retter zu wählen, der weniger Vorwärtsfahrt entwickelt. Da die Geschwindigkeit der Vorwärtsfahrt (wie beim Gleitschirm) auch von der Anhängelast abhängt, ist etwas mehr Fläche dienlich, um das Risiko, in eine Scherenstellung zu geraten, zu reduzieren.
AntwortenLöschen@Markus: Ich habe den Absatz zur Scheren-Stellung noch um einen Satz ergänzt, um deutlich zu machen, dass diese Formation mit allen Rettertypen, also auch mit Rundkappen auftreten kann.
AntwortenLöschen@Lucian: Alles bestens, danke für die Ergänzung!
AntwortenLöschenHallo Lucian, vielen Dank für diese sehr interessante Serie! Weißt Du, ob es bei Rettern, die eine gewisse Vorwärtsfahrt aufweisen, eine Tendenz gibt, wie sich diese zur Windrichtung ausrichten? Wenn z.B. ein Rogallo dazu neigt, sich so auszurichten, dass er mit dem Wind fliegt, dann besteht natürlich ein erhöhtes Risiko, vom Retter in den Hang getragen zu werden (vorausgesetzt man fliegt an einem Hang, auf den der Wind ansteht). Wenn er sich aber eher gegen den Wind ausrichtet, dann wäre die Vorwärtsfahrt in der oben beschriebenen Situation ein Sicherheitsplus. Vielen Dank vorab, falls Du dazu etwas sagen kannst. Freue mich bereits auf die weiteren "Folgen"!
AntwortenLöschen@Tim: Die Richtung der Vorwärtsfahrt bei Wind hängt stark davon ab, ob Du den Hauptschirm trennst oder noch am Gurtzeug hast. Bleibt der Hauptschirm "am Haken", richtet er sich vom Wind verblasen aus. Dabei zieht er den Piloten natürlich aus dem eigentlichen Schwerpunkt unter dem Retter. Der Retter bekommt so eine Schrägstellung, die ihn eher gegen den Wind aufgleiten lässt. Bei stärkerem Wind und nicht deaktiviertem Hauptschirm ist das Risiko für eine Scherenstellung groß.
AntwortenLöschenWenn man den Hauptschirm trennt, ergeben sich andere Verhältnisse. Das kann von Retter zu Retter unterschiedlich sein, da sie je nach baulicher Asymmetrie unterschiedlich stark auf Wind bzw. Seitenwind reagieren.
Danke für's schnelle Feedback!
AntwortenLöschen@lucian
AntwortenLöschen"..da sie je nach baulicher Asymmetrie unterschiedlich stark auf Wind bzw. Seitenwind reagieren."
Das habe ich jetzt nicht verstanden. Ich dachte das Rundkappen, Kreuskappen und SQR's symmetrisch gebaut sind.
Könntest Du mir das bitte erklären?
Danke,
Gruß Guido
@guido: Tim hatte explizit nach Rettern mit einer gewissen Vorwärtsfahrt gefragt. Solche Retter haben eine eingebaute Asymmetrie, damit sie in eine Richtung ins gleiten kommen. Bei einem Rogallo ist das offensichtlich. Bei manch anderen Rettern sind die Asymmetrien viel subtiler, aber vorhanden. Vom Grundkonzept her sind Rundkappe, Kreuzkappe und SQR symmetrisch. Es gibt aber auch Abweichungen. Manche werden offen kommuniziert wie
AntwortenLöschenz.b. von Independence bei der Evo Cross, andere nicht. Je kleiner die Retterfläche ist, mit der laut Zulassungsdaten noch ein guter Sinkwert erreicht wird, desto eher muss man damit rechnen, dass da ein gewisses Gleiten mit im Spiel ist.
Kann man den Schirm im Downplane nicht zum Steuern verwenden, sofern er nicht verhangen ist?
AntwortenLöschenNicolas
AntwortenLöschenDanke für Deine serie.
Was m.E. fehlt i.S.e. Praxisbezuges ist wie man - ausreichende Resthöhe vorausgesetzt - mit dem Gleitschirm umgeht.
Er könnte, falls nicht in einer Scherenstellung, zusätzlich hilfreich bremsen.
Wie ist er, falls störend, am besten zu bändigen? B-Gurt ziehen (einseitig oder falls überhaupt möglich beidseits) oder eine Steuerleine maximal ziehen?
Das wird wohl alles auch von seinem Deformationsgrad und -form abhängig sein.
Erfahrungen hierzu wären hilfreich - ich möchte da nicht im Ernstfalls experimentieren müssen.
@Nicolas: Das Thema kommt noch. Die Serie ist noch nicht zu Ende. Es wird noch einige Kapitel geben, auch eins zum Umgang mit dem Schirm.
AntwortenLöschenDanke für diese Artikelserie!
AntwortenLöschenEine Frage die mich in der Theorie beschäftigt:
Wieso ergibt sich eine bestimmte Flugrichtung relativ zum Wind (bzw. gibt es diese überhaupt)?
Wenn der Pilot mit einer Schnur am Boden festgebunden wäre, dann wäre die Sache klar. Aber frei in der Luft fliegend gibt es doch gar keinen Wind. Der ist nur relativ zum Boden. Der Pilot müsste sich mit dem Wind mitbewegen und keinen Wind spüren, dementsprechend dürfte es keine Vorzugsrichtung geben in die der Schirm fliegt.
Wie gesagt, rein theoretische Gedankenspielerei.
LG, Martin
@Martin: Alle Retter blasen beim Sinken die unter ihnen aufgestaute Luft irgendwie ab. Bei Kreuzkappen z.B. durch die seitlichen Schlitze. Sind die Kappen etwas asymmetrisch aufgebaut, sei es durch ihre Form oder durch unterschiedliche Leinenlängen etc., findet dieses Abblasen bevorzugt oder verstärkt zu einer Seite hin statt. Dieses gerichtete Abblasen ergibt dann einen gewissen Schub, d.h. Vortrieb relativ zur umgebenden Luft.
AntwortenLöschen@ Samuel... Super Kommentar! Auch wenn es nicht zum Thema passt mußte ich lachen ��
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