Der Icaro Gravis ist als ein Mid-B ein agiler Allrounder mit einem nicht nur grafisch interessanten Konzept und Details.   


Die im folgenden beschriebenen Eindrücke zum Gravis von Icaro habe ich in acht Flug- und Groundhandlingstunden unter unterschiedlichen Bedingungen rund um die Eifel gewonnen. Geflogen bin ich den Gravis in der Größe M (80-105 kg) mit rund 92 kg Startgewicht. Das Gurtzeug war ein Karpofly Extra Light (Liegegurtzeug). Der Schirm wurde mir für den Test freundlicherweise von Icaro zur Verfügung gestellt.

Icaro hat in den vergangenen Jahren einen bemerkenswerten Wandel durchgemacht. Nach der Trennung von Michael Nesler blieb eine Weile unklar, wer dort das Zepter als Konstrukteur der Marke führt. Die Umbruchphase nutzte Icaro, um sich vor allem erst einmal äußerlich neu zu erfinden und zu positionieren. Farbiger, lifestyliger, markanter wurden zum einen der Internetauftritt und dann auch die Schirme. "Wir wollen Gleitschirmfliegen rebellisch, individuell und anders", heißt es im Manifest der Marke.

Freches Design, gut verarbeitet. Die runden Nähte sitzen perfekt,
das Logo ist aufgedruckt.
Mittlerweile erweckt Icaro den Eindruck, auf einem guten Weg zu sein. Mit Benni Hörburger wurde ein kreativer, junger Kopf für die Entwicklungsabteilung gefunden. Der Gravis ist der erste Schirm, den er für die Marke geprägt hat. Im Rund der Mid-B-Schirme, in dem er platziert ist, fällt er nicht nur durch sein freches Farbdesign auf. Tatsächlich wird der im Manifest geäußerte Anspruch, Gleitschirmfliegen anders und mit "Liebe zu jedem Detail" machen zu wollen, durchaus sichtbar.

Der Gravis weist einige interessante konstruktive Details auf, die in dieser Kombination bei keinem anderen Schirm dieses Segments zu finden sind (weshalb ich hier auch etwas ausführlicher darauf eingehe): Auf der einen Seite simpel, auf der anderen Seite gut durchdacht und ausgefeilt.

Das fängt an beim verwendeten, leichten 32-Gramm-Tuch von Porcher (Skytex 32), das wegen einer besonderen Webweise in der Festigkeit mit schwereren Tüchern mithalten kann. Der Gravis ist komplett daraus gefertigt.

Dann kommt der Gravis mit nur 40 Zellen daher, während die ähnlich gestreckten Konkurrenten wie Ion 4 oder Buzz Z5 mit 49 bzw. 48 Zellen aufwarten. Dafür sind aber die Zellen des Gravis an der Eintrittskante noch einmal mit einer Mini-Rippe im Obersegel unterteilt bzw. gestützt, was vor allem der Profiltreue beim beschleunigten Flug zugute kommen dürfte. Diese Bauweise ist allerdings auch technisch nötig, um das vergleichsweise stark ausgeprägte Shark-Nose-Profil des Gravis über die gesamte Zellenbreite in Form halten zu können.

Das Innenleben des Gravis mal ans Licht gebracht: Stabile
Leinenaufhängungen auf allen Ebenen, umgenähte V-Rippen.
Icaro setzt auf Stabilität und Haltbarkeit.
Das Leinenlayout ist stark reduziert und kommt mit nur 2 Stammleinen pro Seite aus. In der Addition dieser Merkmale ergibt sich ein erstaunlich geringes Gesamtgewicht von nur 4,5 kg für die Größe M.

Die "Liebe zum Detail" beim Gravis zeigt sich auch im Innenleben. Alle Leinenaufhängungen an den Rippen sind aufwendig mit Mylar und angedeuteten Gibus-Bögen verstärkt. Die V-Rippen sind selbst im hinteren Flügelteil an den Rändern umgenäht, um dauerhaft in Form zu bleiben. Das Design ist trotz der komplexen Stoffschnitte auffallend maßhaltig genäht. Hier setzt Icaro in löblicher Weise auf sehr hohe Qualitätsstandards und damit auch Maßstäbe in dieser Klasse. Bleibt nur die Frage, ob sich all dieser Einsatz auch im Flugvergnügen auszahlt. Davon nun mehr im folgenden Test im üblichen Lu-Glidz-Schema.


Die Stammleinen des Gravis. Da muss man nicht lange sortieren.
Aber warum sind Stabilo- und Bremsleine gleich gefärbt (gelb)?
Starten: Das Starten mit dem Gravis ist unspektakulär. Der reduzierte Leinensatz lässt sich sehr gut sortieren. Gestartet wird am besten nur mit den inneren A-Gurten (sie sind dafür sogar extra beschriftet). Auf leichten Impuls hin steigt die Kappe gemächlich, aber konstant nach oben. Dabei will sie allerdings lange mit leichtem Zug geführt werden. Lässt man die A-Gurte zu früh los, bleibt der Gravis im oberen Drittel hängen. Ich hätte mir hier ein Quäntchen mehr Punch gewünscht. Im Gegenzug hat er aber kaum die Neigung zu überschießen und dürfte damit selten einmal Piloten überfordern.
Ich würde empfehlen, die Kappe beim Auslegen bewusst in Spannweite etwas vorzuspannen, um die breiten Zellen mit der Shark-Nose von Anfang an in ihre angedachte Profilform zu ziehen. Macht man dies nicht, kann der Gravis manchmal etwas verzögert bzw. anfangs ungleichmäßig füllen. Ohne Vorspannung tendiert die Eintrittskante auch dazu, nach vorne umzuklappen und dann schlechter Luft zu schnappen. Hier macht sich das Gewicht der vielen kurzen Stäbchen bemerkbar. Vor allem an steileren Startplätzen erfordert diese Eigenschaft gelegentlich einen geduldigen Piloten (oder freundliche Starthelfer, welche die Kappe wieder öffnen).

Landen: prima. Erstaunlich gutes Ausflaren für einen Schirm dieser Streckung (5,2).

Bremsen: Die Bremsen der Gravis haben einen deutlichen Vorlauf. Der einsetzende Bremsdruck ist sehr angenehm im Bereich "gering bis mittel" angesiedelt. Die im Flug normalerweise nötigen Arbeitswege fallen dann angenehm kurz und direkt aus. Allerdings hat die Kappe die Eigenschaft, gelegentlich etwas ihrer Reaktivität auf der Bremse zu verlieren.

Die Eintrisskante des Gravis. Die gekreuzten Stäbchen halten
eine ausgeprägte Shark-Nose. In der Zellmitte sitzen noch
stützende Mini-Ribs am Obersegel.
Kappenfeedback: Der Gravis "spricht" über alle Kanäle mit dem Piloten und zeigt so die Luftverhältnisse gut an. Im Gegensatz zu vielen anderen Shark-Nose-Flügeln gibt der Gravis auch über die Bremse noch sehr feine Rückmeldungen, z.B. über Steigzonen im Bart. Über die Tragegurte kommen hingegen die gröberen Infos.
In turbulenter Luft kippt man als Pilot manchmal unverhofft im Gurtzeug ab und wird etwas durchgeschüttelt. Ich nenne das das Zwei-Stammleinen-Syndrom (ganz ähnliches hatte ich schon bei meinem Test des Nevada 2  erfahren und bemängelt):
Da der Gravis nur zwei Stammleinen pro Seite besitzt, verändern auch schon kleinere Deformationen oder Entlaster am Außenflügel kurzzeitig die Leinengeometrie eines größeren Flügelteils. Spürbar wird das im Gurtzeug dann durch einseitiges Abkippen, als ob man durch kleine Schlaglöcher fliegen würde. “Er zeigt gut an, was in der Luft los ist”, werden manche sagen. Ich habe diese etwas gesteigerte Unruhe in Turbulenzen allerdings als leicht störend empfunden. Zumal der Schirm in solchen Situationen an Kohärenz verliert und kurzzeitig auf der "geschüttelten" Seite nicht mehr so gut auf Bremsinputs reagiert. Sicherheitsrelevant ist das nicht, allerdings könnte dieses Verhalten manche Piloten verunsichern. Zumindest ist es gewöhnungsbedürftig.
Ich würde gerne mal zum Vergleich einen Gravis mit einem Drei-Stammleinen-Layout fliegen. Ich glaube, es wäre der in Turbulenzen deutlich angenehmere und unterm Strich auch leistungsfähigere Schirm.

Kurvenflug: In diesem Punkt macht der Gravis viel Spaß. Sein Kurvenverhalten ist im Klassenvergleich angenehm harmonisch und agil. Einleitung mit Gewichtsverlagerung, nur ein wenig die Innenbremse gesetzt, schon zieht der Gravis elegante Kreise und erweist sich dabei als durchaus wendig. Den Außenflügel sollte man getrost laufen lassen. Dank der hohen Nickdämpfung des Profils braucht er nur selten Korrekturen.

Thermikeigenschaften: Das ausgewogene Kurvenverhalten überträgt sich  auch in den Thermikflug. In harmonischen Bärten reicht es den Schirm einmal in gewünschter Schräglage hineinzustellen, um danach mit nahezu konstanter Bremsenstellung nach oben zu kurbeln.
Der Gravis hinterließ bei mir den Eindruck, gute Steigqualitäten zu besitzen. Er ist kein ausgesprochener Flachdreher, sondern lässt alle Schräglagen zu. Angenehmerweise tendiert er nicht zum graben.
In turbulenteren Bärten wird der Schirm etwas anspruchsvoller, bedingt durch den gelegentlichen Verlust seiner Kappenspannung (siehe Kappenfeedback). Erstaunlicherweise wirken sich diese kurzen Entlaster im Außenflügel kaum auf die Kurbelwilligkeit aus. Ein kleiner Impuls auf der Innenbremse, schon bleibt der Gravis auf seiner Bahn. Nur der Pilot muss zurück in die Gleichgewichtslage finden.
Beim Einflug in die Thermik tendiert der Gravis dazu kurz innezuhalten und sich etwas aufzustellen. Fällt man aus der Thermik heraus, zeigt sich die hohe Nickstabilität des Profils. Der Flügel schießt kaum vor, sondern sackt einfach etwas durch. Auch hier hätte ich mir manchmal, wie beim Start, ein Quäntchen mehr Dynamik gewünscht, um Kurven zurück in den Aufwind schneller einleiten zu können.

Mit kugelgelagerten Beschleunigerrollen ist es kein Kraftakt,
um beim Gravis ins Gas zu steigen.
Beschleuniger: Der Gravis besitzt große kugelgelagerte Rollen. Der Beschleuniger ist damit vergleichsweise leicht zu treten und lädt ein, benutzt zu werden. Der Geschwindigkeitszuwachs von Trimm- bis Fullspeed betrug bei meiner Gewichtskonfiguration rund 10 km/h. Bis rund 6 km/h über Trimm bleibt die Polare angenehm flach.

Ohren anlegen: Bei nur zwei Stammleinen pro Seite zieht man beim Gravis zwangsläufig von Anfang an große Ohren, was ordentliche Sinkwerte bedingt. Die Außenflügel legen sich sauber an und schlagen nicht. Allerdings haben sie die starke Tendenz, mit Impuls öffnen zu wollen. Die Ohren längere Zeit zu halten, um unter einer Wolke zu fliehen, kostet richtig Kraft.

Steilspirale: Die Einleitung der Steilspirale beim Gravis erfolgt leicht verzögert, danach lässt sich das Manöver aber anstandslos kontrollieren und ausleiten.

Nicken: Der Gravis ist stark nickgedämpft. Er lässt sich kaum über einen bestimmten Nickwinkel hinaus aufschaukeln oder gar auf diese Weise zum Frontklapper bewegen. 

Rollen: Die Rollfreude des Gravis ist mittel. Mit zusätzlichem Bremseinsatz können aber dennoch ohne Tricks harmonische Wingover geflogen werden.

Packen: Packtechnisch ist der Gravis sehr angenehm zu handhaben. Das leichte Tuch und die kurzen Stäbchen ermöglichen ein kompaktes Packmaß, mit dem auch knapper geschnittene Wendegurtzeuge keine Probleme haben sollten.

Qualität: Mit den eingangs beschriebenen baulichen Merkmalen kann man den Gravis qualitativ getrost zur Benchmark seiner Klasse zählen. Es sind nur kleine Details, die meiner Meinung nach noch verbessert werden könnten. Zum Beispiel sollte die Stabilo-Leine nicht die gleiche gelbe Farbe haben wie die Bremse. Die Leinen sollten ab Werk vorgeschlauft in den Schäkeln sitzen, um ein späteres Nachtrimmen zu erleichtern. Und die Einhängeschlaufen der Tragegurte könnten unterschiedlich gefärbt sein (rechts/links), wie es bei anderen Herstellern mittlerweile zum Standard gehört.

Fazit: Der Gravis ist ein Mid-B mit einem nicht nur vom grafischen Design her eigenen Charakter. Die Qualität der Konstruktion und Ausführung ist top. In der Luft macht der Flügel dank seines guten Kurven- und Thermikhandlings viel Spaß. In Turbulenzen überträgt er allerdings zuweilen etwas mehr Unruhe an den Piloten als andere Schirme ähnlicher Streckung. Daran muss man sich gewöhnen, und deswegen würde ich ihn nicht direkt für Aufsteiger aus der A-Klasse empfehlen. Vom Konzept her ist der Gravis ein echter Allrounder in der Liga von Ion 4, Buzz Z5 oder Atlas. Gewicht und Packmaß erlauben auch gelegentliches Hike&Fly. 


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