Nova-Konstrukteur Philipp Medicus spricht im Interview über Projektdetails des EN-B Phantom mit 99 Zellen und den Sinn der Zellvervielfachung. 
Der Nova Phantom zeigt im Flug seine hohe Zellenzahl. // Quelle: Nova
Anfang Juli berichtete Lu-Glidz erstmals über Novas ganz besonderen "Neuen": Der Phantom ist der erste EN-B mit 99 Zellen. Der Bericht stieg innerhalb kurzer Zeit zu einem der bisher meistgelesenen Posts in der Geschichte von Lu-Glidz auf. Das zeigt, dass Nova mit dem Projekt zumindest einen Nerv bei den Piloten getroffen hat. Egal wie sich der Schirm in der Praxis schlagen wird, marketingtechnisch ist der Phantom schon mal ein gelungener Coup. Ob angesichts des hohen Preises auch die kommenden Verkaufszahlen dem ersten Hype entsprechen werden, muss sich erst noch erweisen. Die Hoffnung bei Nova, ein neues Premium-Segment im Paragleitermarkt etablieren zu können, ist auf jeden Fall groß. Wie es überhaupt zu dem Projekt kam, wo die Hauptschwierigkeiten liegen und was in puncto Vielzeller in Zukunft noch von Nova oder auch anderen Herstellern zu erwarten sein könnte, darüber sprach Lu-Glidz mit Philipp Medicus, dem Konstrukteur des Phantom.


Philipp, der Phantom stößt bei vielen Piloten auf großes Interesse. Auf Lu-Glidz ist mein erster Bericht zu dem Schirm innerhalb kurzer Zeit in die Top-10 der meistgelesenen Posts aufgestiegen. Hat Dich die breite Resonanz auch in Gleitschirmforen etc. überrascht?
Philipp Medicus: Nicht sehr. Die Hoffnung auf diese Resonanz bestand schon zu Beginn der Entwicklung. Je weiter sich der Schirm dem fertigen Produkt annäherte, desto zuversichtlicher wurden wir intern, dass sich die Hoffnung erfüllen würde.

Was soll der Phantom jetzt eigentlich kosten. Anfangs wurde ein Listenpreis von über 6000 Euro genannt. Bleibt es dabei?
PM: Ja. Genau sind es 6450 Euro.

Das komplexe Innenleben eines Phantoms, zur Qualitätskontrolle noch
ohne angenähtes Obersegel verkehrt herum aufgehängt. So wird schnell
sichtbar, ob alle Diagonalen, die zum Teil durch benachbarte
Profile hindurch reichen, korrekt sitzen. // Quelle: Nova
Das ist gut doppelt so viel wie bei einem herkömmlichen EN-B-Gleitschirm. Der Phantom hat doppelt so viele Zellen wie der Ion 4. Besteht hier ein direkter Zusammenhang? Rein rechnerisch könnte man Pi mal Daumen sagen, das Nähen einer Zelle eines Gleitschirms kostet rund 60 Euro. Ein EN-A mit 45 Zellen kommt dann auf einen Listenpreis um 2700, ein EN-B mit 55 Zellen auf 3300 und eben ein Phantom mit 99 Zellen auf rund 6000, was mit der Marktrealität ganz gut zusammenpasst. Inwieweit stimmt diese Rechnung?
PM: Die Rechnung ist nicht ganz verkehrt. Aufgrund der komplexeren Innenstruktur dauert es zwar deutlich länger, eine Phantom-Zelle zu nähen, als eine Zelle des Ion 4. Das wird aber zumindest teilweise wieder dadurch kompensiert, dass der Aufwand für Leinen, Tragegurte und ähnlichem kaum ansteigt. Als ganz grobe Schätzung aber taugt der genannte proportionale Zusammenhang zwischen Zellanzahl und Kosten.

Ist der Preis für den Phantom denn gerechtfertigt? Was bekomme ich als Pilot beim Phantom de facto mehr als beim Ion 4 – außer dem Gefühl, ein besonders exklusives Produkt zu fliegen?
PM: Man bekommt markant mehr Leistung und ein Handling, das in punkto Präzision an deutlich höher eingestufte Schirme erinnert. Beides bei einer passiven Sicherheit auf dem Level des Ion 4. Ob der Preis wirklich gerechtfertigt ist, wird aber letztendlich der Markt entscheiden.

Kommen wir zur Geschichte des Phantom. Wann und wie kam es eigentlich zu der Idee, dieses Projekt zu starten?
PM: Die ganz grobe Idee für einen solchen Schirm gab es bei Nova schon seit deutlich über fünf Jahren. Es blieb aber lange bei dieser groben Idee, bis ich 2013 ein solches Konzept mal simuliert habe. Das sah zwar einigermaßen vielversprechend aus, landete aber wieder in der Versenkung. Erst im vergangenen Jahr haben wir dann beschlossen, uns der Idee ernsthaft zu widmen. Nach dem ersten Prototyp waren wir dann sehr zuversichtlich, dass sich das Projekt früher oder später erfolgreich abschließen lassen würde. Der Anstoß für die Realisierung war die Neugierde, was denn in dieser Streckungsklasse möglich wäre, wenn man die technologischen Möglichkeiten ausreizt.

Warum habt ihr den Ion als Grundlage gewählt und nicht den Mentor? Bei letzterem - mit seinem guten Ruf als Streckenmaschine - läge doch die Leistungsoptimierung noch viel stärker auf der Hand?
PM: Der Ion ist nicht die Grundlage des Phantom. Abgesehen von der Streckung hat der Phantom technisch gesehen nicht mehr mit dem Ion gemein als mit dem Mentor. Wir denken aber, dass es für die Streckungsklasse des Ion und nun eben des Phantom eine besonders große Zielgruppe gibt.

Wäre es denn eine Option, auch für andere Flügel aus der Nova-Palette den Weg der Zellvervielfachung zu gehen?
PM: Wie gesagt, der Phantom ist kein Ion mit verdoppelter Zellanzahl. Die wesentliche Gemeinsamkeit ist die ähnliche Streckung und der ähnliche Anspruch. Wir haben uns noch nicht festgelegt, ob wir vielleicht ein ähnliches Konzept auch mit mehr Streckung realisieren werden.

Was genau bringt es eigentlich, einen Schirm mit mehr Zellen auszustatten. Wo liegen die Vorteile, warum steigert das die Leistung?
PM: Ein Vorteil ist die große Formstabilität. Ein Schirm mit derart vielen Zellen und einer so komplexen Innenstruktur ist sehr verwindungssteif. Er behält also die angedachte Form, was der Leistung zuträglich ist. Ein weiterer Vorteil liegt im geringeren Ballooning. Dadurch weicht das Profil in der Zellmitte nur wenig von der Form der Profilrippen ab. Die Abweichungen vom gewünschten Idealprofil sind also geringer.

Mehr Zellen wollen aber auch entsprechend aufgehängt oder abgespannt werden. Dafür braucht es entweder ein komplexes Innenleben mit zellübergreifenden Diagonalen, oder man benötigt mehr Leinen. Wo liegt Deiner Ansicht nach die Grenze, ab welcher noch mehr Zellen nichts mehr bringen, weil die Leistungsvorteile durch den zusätzlichen Leinenwiderstand aufgefressen werden?
PM: Das ist schwer zu sagen. Ich könnte mir vorstellen, dass aus den Vierer- und Fünfer-Abspannungen (Anm: Anzahl der Zellen zwischen zwei Leinenansatzpunkten) in Zukunft Sechser- und Siebener-Abspannungen werden, die das Problem des zusätzlichen Leinenwiderstandes weiter kompensieren können. Ich würde mich auf keine minimal sinnvolle Zellenbreite oder maximal sinnvolle Zellenanzahl festlegen wollen.

Warum hast Du den Phantom überhaupt mit 99 Zellen geplant? Du hättest ja auch nur 80 nehmen können, der Wow-Effekt wäre Nova auch damit sicher gewesen.
PM: Ich denke, dass der Schirm mit 99 Zellen besser fliegt, als mit 80. Und im Pflichtenheft des Phantom stand, dass die Fertigungskosten keine Rolle spielen sollen.

Hältst Du es denn für nötig, mit einer so hohen Zellenzahl zu operieren? Ozone bringt gerade den Zeno auf den Markt, einen Zweileiner mit EN-D. Der soll leistungsmäßig mit dem CCC-Schirm Enzo 2 mithalten können, besitzt aber nicht 101 Zellen wie der Enzo 2, sondern nur 78. Die Zellenzahl scheint also nicht alles zu sein.
PM: Die Zellanzahl ist auch nicht alles, was den Phantom ausmacht. Sie ist halt das auffälligste technische Merkmal. Aber wie schon gesagt: Ich halte die 99 Zellen für technisch sinnvoll.

Eine Näherin in Novas eigener Produktion in Ungarn vernäht
Profile und filigrane Diagonalen mit dem Obersegel des Phantom.
// Quelle: Nova
Wenn es um besonders performante Schirme geht, ist auch die Qualität der Näharbeit und des Controlling eine entscheidende Einflussgröße. Nova hat eine eigene Produktionsstätte in Ungarn. Wäre jede Eurer Näherinnen fähig, einen Phantom zu nähen?
PM: Beim Nähen des Phantom ist nicht alles kompliziert. Einen Aufhängeloop auf ein Profil zu nähen, ist beim Phantom auch nicht anspruchsvoller als beim Ion 4. Kompliziert wird der Phantom, sobald die vielen Diagonalen ins Spiel kommen. Das können aktuell nur einige unserer Näherinnen. Die Prototypen des Phantom während der Entwicklung wurden sogar alle von nur einer Näherin genäht. Sie fliegt nicht nur gut, sie hat auch ein fundiertes technisches Verständnis vom Aufbau eines Schirmes. Die kapiert sofort, welches Diagonalelement wohin gehört. Das ist ein großer Vorteil in der Prototypen-Fertigung. Jetzt werden unter ihrer Leitung nach und nach weitere Näherinnen auf den Schirm eingeschult. Natürlich kann man nicht bei allen auf das gleiche technische Verständnis setzen, darum ist eine saubere Dokumentation der Fertigungsschritte unerlässlich. Wir haben deshalb auch zusätzliche Fertigungs- und Kontrollschritte eingeführt.

Die große Resonanz auf den Phantom in der Fliegerszene lässt vermutlich auch andere Gleitschirmfirmen aufhorchen. Wie lange wird es Deiner Meinung nach dauern, bis von einem eurer Konkurrenten ein ähnliches Produkt vorgestellt wird?
PM: Das weiß ich nicht. Ich gehe aber davon aus, dass der Phantom nicht der einzige Schirm seiner Art bleiben wird.

Müssen wir dann künftig in noch mehr Schirmklassen denken? Wird es neben EN-A und EN-B in High, Mid und Low auch noch so etwas wie ein EN-B “premium” geben, bei dem dann eben nicht mehr nur die Sicherheits-, sondern auch die Preisklasse etwas über das Leistungsniveau aussagt?
PM: Nunja, nur weil ein Schirm teuer ist, muss er nicht zwangsläufig gut leisten. Aber zu deiner Frage: Bei vielen anderen, vergleichbaren Produkten sind unterschiedliche Preissegmente völlig selbstverständlich. Man kann zum Beispiel ein Rennrad für 1000, 4000 oder auch als Premium-Produkt für 8000 Euro kaufen. Die Gleitschirmwelt ist da bisher die absolute Ausnahme, aber ich vermute schon, dass sich das nachhaltig ändern wird.

Mit dem Phantom hast Du Dir als Konstrukteur einen Platz in der Gleitschirmgeschichte gesichert. Wie fühlt man sich, wenn man in den Prospekten liest, es sei der “vermutlich komplexeste und technisch aufwändigste Serienschirm aller Zeiten”?
PM: Der Text im Phantom-Prospekt liefert mir keine Befriedigung. Und die Komplexität ist kein Verdienst meinerseits, sondern der Leute, die für die Fertigung des Schirms zuständig sind. Ich habe mich aber zum Beispiel sehr gefreut, als Ferdinand Vogel kürzlich nach der Kaisertrophy begeistert in die Firma kam und mir anhand der Tracks geschildert hat, wie gut er mit dem Phantom in diesem Wettbewerb mit den Zweileinern mithalten konnte. Das war, nach all den internen Vergleichsflügen, eine weitere fundierte Bestätigung, dass die Komplexität und der Aufwand einen entsprechenden Mehrwert ermöglichen.

Inwieweit hast Du bei der Konstruktion des Phantom auch für Dich echtes Neuland betreten? Was war die größte Schwierigkeit?
PM: Für mich beziehungsweise für unser Entwicklungsteam war es definitiv Neuland. Die größte Schwierigkeit war wahrscheinlich der Weg bis zum ersten Prototypen, inklusive dessen Fertigung. Ab da war dann die Euphorie größer als die Schwierigkeiten.

Needle Eye Ribs (Nadelöhrrippen) nennt Nova eine schon beim
Triton 2 eingeführte Technik, bei der trompetenförmige Diagonalen
durch Aussparungen in den Zellprofilen fassen. Beim Phantom
kommt diese Bauweise massiv zum Einsatz. Das Bild zeigt eine
so realisierte Vier-Zell-Abspannung. // Grafik: Nova   
Auf welche konstruktive Detaillösung bist Du besonders stolz?
PM: Der Phantom hat mehrere Erkenntnisse gebracht, die ich nicht missen möchte. Ganz allgemein formuliert ist es sehr interessant, einen Parameter wie die Zellenzahl und damit das Ballooning extrem zu verändern, um gewisse Zusammenhänge besser zu verstehen. Das hat der Phantom definitiv ermöglicht. Wenn sich daraus eine greifbare, einfach erklärbare Detaillösung ergibt, auf die ich stolz bin, dann möchte ich die aber nicht so zeitnah veröffentlichen.

Dann frage ich mal allgemeiner: Welche Erkenntnisse aus der Entwicklung des Phantom könnten sich auch in künftigen Nova-Schirmen mit normaler Zellenzahl wiederfinden?
PM: Die konkreteste Antwort ist der Leichtbau. Zu Beginn der Entwicklung hatten wir Bedenken, dass ein Schirm mit derart vielen Zellen zu schwer werden könnte. Darum haben wir ab dem ersten Proto versucht, kein unnötiges Stück Stoff mehr im Schirm zu belassen. Davon werden künftige Nova-Schirme sicher profitieren.

Wenn der Phantom innen so viele Zellwände und Diagonalen hat, die auch noch zur Gewichtseinsparung stark ausgeschnitten werden, fällt bei der Produktion ja enorm viel Stoffabfall an. Was passiert eigentlich damit?
PM: Die Menge an Verschnitt ist beim Phantom natürlich größer als bei einem Ion. Aber sie ist kleiner als bei einem Tandemschirm. Die Komplexität hilft sogar an manchen Punkten, Material zu sparen. Das gesamte Obersegel eines 99-Zellers mit 25 Quadratmeter Fläche verursacht zum Beispiel weniger Verschnitt als das eines 30-Zellers mit der gleichen Fläche. Denn viele kleine Teile lassen sich auf dem abgerollten Stoff effizienter anordnen als wenige große. An anderer Stelle erhöht die Komplexität hingegen den Materialverbrauch. Das gilt zum Beispiel für die vielen Profilrippen. Natürlich ist die Reduktion des Verschnittes allein aus wirtschaftlichen Gründen ein großes Anliegen. Die Tuchteile werden dafür von einer so genannten Nestingsoftware so dicht wie möglich angeordnet. Was dann noch überbleibt, sind kleine Stofffetzen, die entsorgt werden.

Kritisch betrachtet könnte man den Phantom, vom Materialverbrauch her, nicht nur als den bislang komplexesten, sondern auch als den womöglich unökologischsten Gleitschirm am Markt bezeichnen. Inwieweit spielen solche Umweltüberlegungen bei Nova eine Rolle?
PM: Ich weiß nicht, was man eher als besonders unökologisch bezeichnen sollte - den Phantom, einen Tandemschirm oder einen Bergsteigerschirm, den man sich nur als Zweitgerät anschafft? Ein besonders ökologischer Schirm wäre so gesehen vielleicht einer, der 2000 Flugstunden alt werden kann. Ich vermute aber, dass es für diesen dick beleinten und acht Kilogramm schweren Schirm keinen großen Markt geben würde. 

Apropos Markt: Soll es in Zukunft auch von anderen Modellreihen wie dem Mentor eine phantom-ähnliche Variante geben?
PM: Das hatte ich zuvor schon beantwortet: Wir wissen es noch nicht.

Und wann kommt der pummelige EN-A mit 80 Zellen und Gleitzahl 10? Karl Slezak, dem Sicherheitsbeauftragten des DHV, könntest Du damit vielleicht einen Traum erfüllen.
PM: Auch das wissen wir nicht. Ich fände es aber naheliegender, ein ähnliches Schirmkonzept mit vielen Zellen eher mit etwas mehr Streckung als mit weniger Streckung zu realisieren.

Danke Philipp für das Gespräch!