Die Ausprägung von Lee-Gebieten folgt den Regeln der Aerodynamik. Darum sind Turbulenzen auch nicht immer dort, wo man sie eigentlich erwartet. 

Lee-Zonen: Wenn der Wind kräftig über einen Berggrat streicht,
wird die Strömung in der Kompressionszone (1) stark beschleunigt.
Durch aerodynamische Effekte wird sie dahinter ans Gelände gesaugt
und fliesst als schneller Abwind den Hang hinunter (2).
Deutlich hinter und unter der Hangkante kommt es dann zum Umschlag
der Strömungsrichtung. Erst im Bereich des hydraulischen Sprungs (3)
herrschen die grössten Turbulenzen. Diese können erst mehrere
100 Meter hinter der Hangkante auftreten.
// Grafik: Lu-Glidz, Youtube Screenshot
Kürzlich ist ein sehr schönes Video auf Youtube erschienen, das einen Sonnenuntergang am Hochgrat im Allgäu zeigt. Viel interessanter als die Farben der Sonne sind allerdings die Bewegungen der Wolken im Film.

Vom Wind getrieben drücken sie über den Grat, fallen auf der Rückseite regelrecht herab, um dann erst in einigem Abstand davon wieder turbulent nach oben zu schnellen.

Das Video macht in wundervoller Weise sichtbar, wie die Strömung in vielen Lee-Gebieten hinter Berggraten verläuft. Statt starker Turbulenz herrscht erst einmal Abwind, bevor dann mit einigem Abstand die Waschmaschine folgt. Dieses Umschwingen und Hochschnellen der Strömung wird hydraulischer Sprung genannt.

Was es genau damit auf sich hat, ist weiter unten noch ausführlicher beschrieben. Doch zur Anregung sollte man erst einmal das verlinkte Youtube-Video betrachten, mit dem so schön sichtbar gemachten hydraulischen Sprung. Am deutlichsten wird dieser Effekt ab 0:45:




Nach dem Video geht es nun ins erklärende Detail.

(Hinweis: Der nachfolgende Text ist in ähnlicher Fassung schon einmal im DHV-Info und im Swiss Glider erschienen – falls jemand das Gefühl hat, er hätte so etwas doch schon mal gelesen. Aber es lohnt, sich auch immer wieder gedanklich mit diesem Thema zu beschäftigen.) 


Lee ist nicht gleich Lee

Der "Wolkenfall" zeigt den Abwind im Lee eines Berggrates.
// Quelle: Hermann Scheer / bergratz.at, Creative Commons BY-NC-SA 
Lee ist nicht gleich Lee, ist einer der schönen Allgemeinplätze, der in solchen Fällen ins Feld geführt wird. Es gibt halt Wetterbedingungen, bei denen sich Lee-Turbulenzen stärker ausbilden als bei anderen. Bei einem Hoch mit Absinkinversionen und stabileren Luftmassen beispielsweise sind Lee-Gebiete in der Regel deutlich turbulenter als an labilen Tagen. Diese Erfahrung machen viele Piloten und handeln bei ihrer Routenwahl entsprechend. Warum dieser Zusammenhang gilt, können jedoch die wenigsten schlüssig erklären. Dabei ist es gar nicht so schwer.

Wer das Thema Lee-Entwicklung verstehen will, muss sich ein wenig mit Aerodynamik beschäftigen. Für Strömungen über Berge gelten die gleichen Gesetze, die auch dafür sorgen, dass unsere Gleitschirme fliegen. Wenn Luft über kurvenförmige Oberflächen streicht, wird der Strömung der Raum genommen. Zum Ausgleich fließt die Luft dort schneller. Das führt zu einem lokalen Druckabfall, ein Unterdruck sozusagen, der dann als saugende Kraft wirksam wird. An einem Flugzeug- oder Gleitschirmprofil entsteht auf diese Weise der Auftrieb.

Bei einer Bergkuppe ist es nicht anders. Das Geländeprofil sorgt ebenso dafür, dass der darüber streichende Wind einen Sogeffekt erzeugt. Allerdings sind in diesem Fall die Stabilität und die Masse des Felsen so groß, dass sie keineswegs vom Wind angehoben werden können. Die Saugkraft ist dennoch da und wirkt – in diesem Fall dann jedoch auf den leichteren Partner: die Luft. Anstatt den Berg zu heben, wird die Luftströmung hinter der Bergkuppe regelrecht am Gelände entlang herunter gezogen.

Wie weit ein solcher Abwindbereich im Lee reicht, hängt von vielen Faktoren ab. Die wichtigsten dabei sind zum einen die Geländeform und -oberfläche und zum anderen die Windgeschwindigkeit.

Ein schön abgerundetes und möglichst glattes Bergprofil wird dafür sorgen, dass die Strömung länger am Gelände anliegen kann. In diesem Fall werden die besonders gefährlichen, turbulenten Bereiche des Lees gar nicht auf Gratniveau, sondern deutlich dahinter und darunter zu finden sein. Im Gegensatz dazu wird hinter schroffen Steilkanten oder scharfen Berggraten die Strömung deutlich schneller turbulent vom Untergrund lösen. Die typischen Bereiche von klapperträchtigen Rotoren sind in diesem Fall eher auf Kammniveau zu finden.


Starker Wind vertieft das Lee

Die Windgeschwindigkeit bestimmt auf doppelte Weise die Stärke eines Lees. Zum einen gilt, dass mit stärkerem Wind natürlich die in Turbulenzen frei werdende Energie ebenso stärker wird. Doch es gibt noch einen zweiten, aerodynamischen Effekt.

Der Gipfel des Teide auf Teneriffa im abendlichen Gegenlicht.
Der Wind weht von rechts über den Berg. Wolkenfetzen zeigen,
wie die Strömung im Lee den Geländekonturen folgt.
// Quelle: Jürgen Rendtel, AIP (Leibniz Institut für Astrophysik
Für Flügelprofile gilt: Je schneller die Luft um das Profil herum fließt, desto stärker wird der Auftrieb. Die Geschwindigkeit (v) geht im Quadrat (v²) in die Auftriebsformel mit ein. Doppelte Windgeschwindigkeit ergibt also eine vierfache Auftriebskraft. Auf die Situation in den Bergen übertragen bedeutet das allerdings: Streicht ein doppelt so starker Wind über die Kuppen, wird die anliegende Windströmung vier Mal so stark nach unten gezogen. Entsprechend weit wird das Leegebiet hinter den Bergen herab reichen.

Dass nun gerade bei stabilen Hochdrucklagen Lee-Gebiete häufig deutlich giftiger ausfallen, hat wiederum mehrere Gründe. Zum einen spielen Temperaturunterschiede der Luft auf der Luv- und Leeseite von Bergen eine Rolle. Schiebt zum Beispiel der Bayerische Wind die Luftmassen über die schattigen Nordflanken der Berge auf die viel stärker von der Sonne aufgeheizten Südhänge, wird die überfließende Luft in der Regel kälter und damit schwerer sein als die dortige Umgebungsluft. Entsprechend schneller fließt und purzelt sie zu Tal.

Weitaus häufiger kommt aber noch ein anderer Effekt zum Tragen: In Hochdruckgebieten bilden sich typischerweise Absinkinversionen aus. Sie wirken von oben wie zusätzliche Hindernisse bzw. Begrenzungen für die Luftströmung. Liegen Inversionsschichten nur knapp oberhalb der Berggrate, bilden sie eine zusätzliche Düse. Dort wird der Wind kanalisiert und direkt über den Kuppen beschleunigt. Kommen das entsprechend geformte Bergprofil, eine knapp darüber liegende Inversionsschicht und die passende Windrichtung zusammen, kann sich auch bei relativ schwachem Grundwind dort ein überraschend starkes, sehr giftiges Lee entwickeln.


Wenn das Lee pulsiert

Besonders gefährlich sind solche Tage auch deshalb, weil die Lee-Bereiche häufig nicht beständig sind, sondern pulsieren: Im Hoch gibt es typischerweise nur wenige Wolken, die Sonneneinstrahlung in die Südhänge ist ungebremst und führt zu starken Thermiken. Wenn diese auf der Lee-Seite der Berge ablösen, saugen sie aus ihrem Umfeld, und damit auch von der Luv-Seite, Luftmassen nach. Dadurch kann vorübergehend der Kammwind nochmals deutlich verstärkt werden. Am Bergkamm wird man dies als starke Böe erleben, dahinter wiederum wird aus der Böe erst einmal durch die aerodynamisch getriebenen „Saugkräfte“ des Geländes ein kräftiger Abwind.

Dieses „thermische“ Pulsieren der Lee-Stärke ist auch eine Erklärung dafür, warum manchmal Piloten, die nur wenig zeitversetzt auf gleichen Routen fliegen, von völlig andersartigen Erlebnissen berichten. Der eine klagt über heftige Turbulenzen, der andere schaut ungläubig und meint, dass es an gleicher Stelle bei ihm völlig ruhig und gar kein Lee gewesen sei.

Dass die Turbulenzen im Lee häufig so unberechenbar sind, hängt noch mit einem weiteren Phänomen zusammen. Bei entsprechend hohen Windgeschwindigkeiten – durch einen starken Grundwind oder lokal durch Düseneffekte (Inversion) ausgelöst – wird die Strömung durch aerodynamische Kräfte in einem recht engen Band an den Lee-Hängen beschleunigt. Das ist vergleichbar mit Wasser, das über einen Stein im Bergbach rauscht. Durch den eigenen Schwung angetrieben, wird sie dabei tiefer reichen, als sie es von ihren physikalischen Parametern (Temperatur und Dichte) her tun wurde.


Der hydraulische Sprung

Ein hydraulischer Sprung in der Strömung an einem Bergbach.
Die über den Steinen beschleunigte Strömung taucht dahinter
unter die eigentliche Wasseroberfläche ein. Hydraulische
Kräfte drücken sie dann mit einem Mal nach oben. Dort
herrschen die größten Turbulenzen (weißer Schaum).
// Foto: Lu-Glidz
Beim Bergbach kann man beobachten, dass die über Steinen stark beschleunigte Wasserströmung direkt dahinter gewissermaßen eine Kuhle formt, die unter die eigentliche Wasseroberfläche reicht. Durch hydraulische Kräfte wird die Strömung dahinter aber wieder turbulent nach oben gedrückt. „Hydraulischer Sprung“ wird diese Erscheinung genannt. Bei Luftströmungen im Lee von Bergen kann es sie in gleicher Weise geben – wenn auch selten so offensichtlich.

Ein kräftiger hydraulischer Sprung sorgt übrigens für die fiesesten Lee-Turbulenzen. Zum einen, weil sie dort auftreten, wo man sie vielleicht gar nicht mehr erwartet. Ein Beispiel: Ein Pilot fliegt über einen Berggrat direkt ins Lee, findet dort aber erst einmal nur recht ruhige Strömungsverhältnisse vor. Guten Mutes fliegt er weiter Richtung Talmitte, um dann 300 oder gar erst 500 Meter hinter der Hangkante plötzlich heftig durchgeschüttelt zu werden. Die Turbulenzen kommen für ihn wie aus heiterem Himmel. Möglicherweise wird er sie gar nicht mit dem Lee in Verbindung bringen. Und doch ist es der erst weit hinter dem Berg erfolgte hydraulische Sprung, der ihn hier fast zum Absturz bringt.

Besonders gemein ist der hydraulische Sprung auch, weil er mit einer enorm starken Umlenkung der Luftmassen einhergeht. Aus Absinken wird mit einem Mal Aufsteigen. Welch kleinräumiges Chaos mit unsteten, kräftigen Rotoren dabei in der Luft entsteht, darf sich jeder selbst ausmalen. Es gibt Berichte von Piloten, die unter solchen Bedingungen schon unfreiwillig einen Salto mit dem Schirm absolvierten.


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