Unterläuft die Dämpfungscharakteristik von Koroyd-Protektoren den biomechanischen Eigenschutz des Körpers?
Koroyd-Protektoren bauen ihre Dämpfung in viel kürzerer Zeit auf als Schaumstoffprotektoren. // Quelle: Facebook, V. Perevalov, modifiziert |
Vor rund einem Jahr setzte in Pilotenkreisen allerdings eine Diskussion über die Sicherheit dieses Protektortyps ein. Bemängelt wurde, dass sich bei Koroyd die Dämpfung systembedingt nicht graduell aufbaut, sondern viel sprunghafter ansteigt als bei klassischen Protektoren. Das sorgt für einen "kinematischen Ruck" im Körper, der zu kurzzeitigen Belastungsspitzen führt, die einer Wirbelsäule schneller schaden könnten. Die Hintergründe hierzu hatte ich im Post "Der Kern der Koroyd-Kritik" auf Lu-Glidz bereits ausführlicher beschrieben.
Eine Frage der Muskelreaktionszeit
In den letzten Monaten war es an der Diskussionsfront rund um Koroyd ruhig geworden. Doch kürzlich meldete sich Vladimir Perevalov mit einem Beitrag auf Facebook zu Wort. Perevalov ist der Entwickler des ukrainischen Gurtzeugherstellers Nearbirds. Er begründete in einem längeren Post, warum er in seinem neuen, submarine-ähnlichen Wettbewerbs-Gurtzeug Atac MS weiterhin auf einen Schaumstoff-Protektor setzt, obwohl das im Vergleich zu Koroyd aerodynamische Nachteile mit sich bringt – durch die etwas höhere Bauform.
Auch er verweist auf die besonderen Eigenschaften von Koroyd, bestimmte Belastungswerte in deutlich kürzerer Zeit zu erreichen (steilerer Anstieg der Messkurve, s. Bild). Dadurch soll dem Körper keine ausreichende Zeit bleiben, um unter anderem die Rückenmuskeln zum Selbstschutz anzuspannen.
Perevalov schreibt: "Um die Auswirkungen zu verstehen, befragten wir medizinische Experten über die Feinheiten der menschlichen Körperreaktion bei vertikalen Stürzen auf starre Oberflächen. Die Schlussfolgerung war einfach: Bei einem Sturz benötigt die Rückenmuskulatur entlang der Wirbelsäule genügend Zeit, um sich reflexartig zu aktivieren, damit die Wirbelsäule beim Aufprall aufgerichtet wird. Dies wirkt einer Vorwärtsbeugung der Wirbelsäule entgegen. Wenn die Wirbelsäule nach vorne gebogen ist, berühren sich die Wirbel nur mit einem kleinen Bereich ihrer Kanten, und die Wahrscheinlichkeit von Verletzungen steigt erheblich. Daher ist die Vorbereitung des Körpers auf den Aufprall ein sehr wichtiger Moment, um die Gesundheit des Piloten zu schützen. Beim Einsatz eines Wabenprotektors ist der Beschleunigungsanstieg so hoch, dass dem Körper nicht die nötige Zeit bleibt, sich auf einen Aufprall vorzubereiten, was wahrscheinlich der Grund für die schwereren Verletzungen von Piloten ist, die auf diese Protektoren fallen."
Die schon bekannte Argumentation der Koroyd-Kritiker besagte, dass harte Substanzen wie Knochen stärker durch den "kinematischen Ruck" belastet werden als weicheres Gewebe.
Perevalovs Hinweis auf die zu lange Muskel-Reaktionszeit des Körpers, um einen von Koroyd gedämpften Aufschlag zusätzlich abzumildern, ist eine weiterer Grund, die Eignung dieses Protektortyps für Gleitschirmgurtzeuge zu hinterfragen.
4 Kommentare
Interessant wäre noch die Frage, was hier mit was verglichen wird: welche Dicke beim Schaumstoff-Protektor und welche Dicke bei Koroyd? Die Grafik erscheint mir hier recht plakativ ohne weitere Erläuterungen zum Material.
AntwortenLöschenAußerdem stellt sich die Frage bei der Muskelreaktionszeit, ob der Körper nicht schon deutlich vor dem Aufprall in ”hab-acht-Stellung" ist, die Muskeln also entsprechend schon angespannt sind, bevor der Aufprall erfolgt.
Bei der Protektorfrage ist es immer ein Kompromiss zwischen optimaler Sicherheit, Komfort, Aerodynamik und vor allem auch Gewicht. Der perfekte Protektor wäre vermutlich ein 40 cm Schaumstoff Rundumschutz. Damit will aber niemand fliegen. Also müssen wir die Vor- und Nachteile der verschiedenen Systeme abwägen. Ich wage die Behauptung (ohne Messbeweis), dass ein nicht perfekt senkrechter Aufprall auf einem 12cm Schaumstoff kritischer ist, als beim Koroyd 3.0. Das ist sicher deskutabel.
Ich möchte in diesem Zusammenhang gerne einen Aspekt genauer beleuchten, der in der ganzen Diskussion immer nur am Rande betrachtet wird. Die Unfälle bei denen der Protektor seine Wirkung entfalten soll sind das Ergebnis von Kontrollverlust des Piloten über den Flügel und der Nichteinsatz des Retters oder einer fatalen Fehlfunktion des Retters. In allen diesen Fällen befindet sich das System Pilot-Schirm-Protektor normalerweise in starken Pendel- bzw. Spinbewegungen. Ein Aufschlag senkrecht auf den Protektor stellt logischerweise einen seltenen Sonderfall dar. Die Art der Verletzungen die dabei auftreten, sollte diese These bestätigen. Es handelt sich vielfach um Torsionsbrüche einzelner oder mehrerer Wirbel, Beckenbrüche sowie Verletzungen des Brustkorbes. Gegen diese Art von Verletzungen kann bisher meines Wissens kein Protektor wirksam schützen. Je senkrechter der Sturz allerdings erfolgt, desto wirksamer erweist sich der Protektor. Hierbei gibt es sicher erhebliche Unterschiede bei den verschiedenen Konstruktionen. Im Falle der hier diskutierten Koroydprotektoren ist der geschützte Bereich des Rückens im Vergleich mit vielen Anderen deutlich größer und somit potentiell sicherer. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass systembedingt jeder Sturz ohne ausgelösten Retter nahezu sicher zu schwersten Verletzungen führen muß. Das wird sich bis zur Erfindung eines wirksamen und alltagstauglichen Seitenschutzes auch nicht ändern. Zurück zur Behauptung der schweren Verletzungen in Folge des Aufpralles auf den Protektor mit der ungünstigen Verformungskennlinie. Wurde bei der Untersuchung der Aufprallwinkel und die resultierende Art der Verletzungen untersucht? Konnte verifiziert werden, dass die Verletzungen ursächlich durch diese Kennlinie bedingt sind? Solange diese Fragen nicht geklärt sind macht eine Diskussion dieser Kennlinie meines Erachtens keinen Sinn.
LöschenFazit: Der wirksamste Schutz vor schweren Verletzungen bei Kontrollverlust ist der rechtzeitige Einsatz des Retters und hierfür hat Neo als einer der Hersteller von Gurtzeugen mit Koroydprotektoren mit dem Suspender 2 und seinem verbesserten Aufhängungssystem einen wesentlichen Schritt nach vorn getan - meiner Meinung nach.
@Sven: Ich denke es geht nicht darum, einen bestimmten Unfall bzw. eine bestimmte Verletzung einem bestimmten Protektor zuzuschreiben. Es geht allgemein darum, dass Protektoren, die einen größeren, plötzlichen "Ruck" in den Körper leiten, möglicherweise verletzungsträchtiger sind, auch wenn sie ansonsten alle geforderten Grenzwerte einhalten.
LöschenWenn also die negativen Folgen des Rucks von der Theorie her möglich ist, sollte man nicht warten, bis der endgültige "smoking gun" Beweis erbracht ist, um darüber zu diskutieren. Es braucht Diskussion, um das anzuregen, was jetzt nötig wäre: Weitere Untersuchungen, ob es sinnvoll ist, auch für den "Ruck" Grenzwerte in der EN-Norm zu definieren, und wo diese Grenzwerte liegen sollten. Derzeit sind halt die Piloten die Versuchskaninchen in einem Umfeld ("freie Wildbahn"), das im Grunde keine validen Aussagen erlaubt, weil ein Versuch (Crash) nie mit gleichen Parametern wiederholt werden kann.
Vielleicht findet sich ja mal jemand aus der Szene, der hierzu eine Masterarbeit schreibt und dafür einen passenden Versuchsaufbau definiert.
Davon abgesehen: Neos Retteraufhängung im Suspender 2 ist tatsächlich eine sehr interessante Entwicklung. Man sollte die Sicherheitsdiskussionen aber nicht vermischen, d.h. nicht den Vorteil des einen gegen den möglichen Nachteil des anderen aufrechnen. Das bringt uns nicht weiter.
Ausdrücklich möchte ich Sven Pfeifer (Kein Protektor schützt!) zustimmen. Denn: Alle Protektoren werden für eine Fallhöhe von ca. 1,65m geprüft. Indem man den schlimmsten anzunehmenden Unfall - einen Absturz als Messlatte heran zieht, macht man schon einen grundlegenden Fehler. Diesen Unfall muss man soweit als möglich im Vorfeld verhindern.
AntwortenLöschenAber eben weil die vielen "kleinen" Unfälle, Startfehler, Stolpern, rumpelige Landung etcpp. durch die Protektoren minimiert werden (sollen), ist es wichtig für diese übergroße Mehrheit von "Unfällen" weiter an den Protektoren zu arbeiten. Insbesondere auch an dem von Sven beschriebenen Umstand, dass der senkrechte Fall auf den Projektor eben die Ausnahme und nicht die Regel ist. Gerade an diesem Punkt wird (mir) viel zu wenig gearbeitet. Welcher Hersteller geht dieses Thema an? Wie und was könnte man da verbessern?
Ulrich Stephan
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