Der kürzliche DHV-Nachtest eines Koroyd-Protektors geht für die Kritiker dieser Protektorbauweise am eigentlichen Problem vorbei. 

Wie schnell nimmt die Bremskraft verschiedener
Protektortypen zu? Die Steigung der
gelben Linie gibt einen Hinweis. 
// Grafik: Lu-Glidz, auf Basis von Messkurven
aus der Datenbank von Para-Test.com

Seit Wochen gibt es in Gleitschirmforen kontroverse Diskussionen darüber, inwieweit der Einsatz der sogenannten Koroyd-Technologie in Gurtzeugprotektoren eine gute Entwicklung darstellt (s. Lu-Glidz: Die Koroyd-Kontroverse). 

Bei den als Neo-Koroyd vermarkteten Protektoren kommen Dämpfungselemente aus dünnen Plastikröhrchen zum Einsatz, die durch dauerhafte Verformung auf sehr kurzem Weg viel Energie abbauen können. Koroyd-Protektoren können deshalb weitaus dünner sein als herkömmliche Schaumstoff- oder Airbag-Protektoren. Sie erfüllen dennoch die Grenzwerte der EN-Norm für Gleitschirmgurtzeuge. Das hat erst kürzlich der DHV mit einem Nachtest eines Protektors des Typs Neo-Koroyd-3.0 überprüft und bestätigt (s. Lu-Glidz: Freispruch für Koroyd?).

Für manche fachkundigen Kritiker hat dieser Nachtest allerdings das aus ihrer Sicht eigentliche Dilemma der Koroyd-Protektoren in Gurtzeugen gar nicht berührt. Denn sie sehen den Kern des Problem nicht darin, dass Koroyd-Protektoren unter bestimmten Szenarien bzw. Einschlagwinkeln vielleicht höhere G-Lasten liefern könnten, als die Norm erlaubt. Es ist die Art, wie bei Koroyd die Dämpfungswirkung einsetzt, die ihnen Sorge bereitet. Sie befürchten, dass es dabei speziell für die Wirbelsäule zu gefährlichen Lastspitzen kommen kann, die von der EN-Norm bisher gar nicht beachtet werden.

Der Ruck ist das Problem

Es geht um den sogenannten kinematischen Ruck, der mit Beginn des Bodenkontakts des Protektors auf den Körper wirkt. Der Ruck beschreibt, wie sprunghaft die Verzögerung, also die Bremskraft des Protektors einsetzt. Grafisch betrachtet ist der Ruck die Steigung der Messkurve eines Protektortestschriebs (s. Grafik oben). 

Bei herkömmlichen Protektoren aus Schaumstoff oder Luftsäcken geht die Messkurve weniger steil nach oben. Das bedeutet: Die Verzögerung setzt sanfter und langsamer ein. Anfangs wenig Bremskraft, dann immer mehr. Mit dieser Charakteristik "verbraten" diese Protektoren erst einmal einen Teil ihrer Bauhöhe, bis sie die maximale Verzögerung erreichen.

Bei Koroyd ist das anders. Dort steigt die Verzögerung direkt viel stärker an, bevor der Körper durch das Krumpeln der Koroyd-Röhrchen dann mit konstanter Kraft abgebremst wird. Dieser starke Ruck trägt mit dazu bei, dass Koroyd-Protektoren weniger dick sein müssen, um unter den maximal erlaubten Verzögerungswerten gemäß EN-Norm zu bleiben. Doch genau dieser starke Ruck könnte für die Schutzwirkung des Protektors in der Praxis eine Kehrseite haben.

Hintern und Wirbelsäule bremsen anders

Das hängt mit dem Aufbau des menschlichen Körpers zusammen. Darin gibt es steife Knochen, umgeben von weichem, wässrigem Gewebe. So ein Ruck wirkt auf beide etwas anders.

Schlägt ein Pilot in Sitzposition auf dem Boden auf, wird zum Beispiel die Wirbelsäule bei einem starken Ruck anders belastet als die weicheren Körperteile. Die steife Wirbelsäule wird fast von Anfang an in Längsrichtung gestaucht, während die weicheren Körperteile erst noch elastisch reagieren. Bildlich gesprochen: Während der Hintern noch in die Breite geht, drückt es die Wirbelsäule bereits einfach nur zusammen. Sie könnte dann schon brechen, während andere Körperteile das alles noch schadlos überstehen.

Ob es soweit kommt  – dafür spielt die Stärke des Rucks (die zeitliche Steigerung der Bremskraft) eine entscheidende Rolle: Bei einem herkömmlichen Protektor ist die Bremskraft wie beschrieben anfangs sehr klein und steigt dann erst mit zunehmendem Weg progressiv an. Die Wirbelsäule wird dann zwar immer noch relativ stärker belastet als die elastischeren Körperteile, aber mit zunächst kleinerer Kraft. Die volle Bremskraft wirkt erst zu einem Zeitpunkt, wenn sich die Körperteile schon passend angeordnet haben. Nochmals bildlich gesprochen: Der in die Breite gegangene Hintern reduziert dann auch einen Teil der Lastspitzen, die auf die Wirbelsäule wirken.

Nun steht die Frage im Raum: Ist der Ruck bei den in Gurtzeugen verwendeten Koroyd-Protektoren tatsächlich so groß, dass damit der Schutz vor Kompressionsbrüchen der Rückenwirbel mangelhaft ausfällt?  

Ruck-Grenzwerte für Schleudersitze

Die Koroyd-Kritiker sehen zumindest von der Theorie her Anhaltspunkte dafür. Sie verweisen auf Studien, die einst bei der Entwicklung von Schleudersitzen für Militärjets gemacht wurden. Auch da gab es die Erkenntnis, dass ein zu großer Ruck zu Wirbelbrüchen führen kann, während der Rest des Körpers unbeschadet bleibt. Wenn man die aus diesen Studien abgeleiteten Grenzwerte eines noch schadlosen Rucks bei Schleudersitzen als Maßstab nimmt, dann würden die Koroyd-Protektoren wohl weit darüber liegen.

Derzeit ist das nur ein Verdacht. Um ihn zu erhärten, bräuchte es genaue Messwerte und bestenfalls auch Studien, die die Wirkung des Rucks mit Blick auf Gurtzeugprotektoren in den Fokus nehmen. Beides gibt es derzeit nicht: Im Rahmen der Protektortests wird der Ruck als solcher gar nicht explizit ermittelt – auch wenn er sich näherungsweise aus den Mess-Schrieben grafisch ableiten lässt. Und noch weniger gibt es irgendwelche Grenzwerte, die einen maximal zulässigen Ruck bei Gurtzeugprotektoren vorgeben.

Muss die Protektornorm novelliert werden?

Bisher waren Ruck-Grenzwerte vielleicht auch gar nicht nötig. Die herkömmlichen Bauarten von Protektoren haben sich über viele Jahre in der Praxis als wirksam erwiesen, und die EN-Protektornorm soweit auch als hilfreich. Doch wenn es nun mit Koroyd eine neue Bauart gibt, die sich in puncto Ruck deutlich anders verhält, dann sind folgende Fragen berechtigt: Müsste die EN-Norm nicht novelliert werden, um künftig auch die Ruck-Eigenschaften von Protektoren bei der Zulassung zu berücksichtigen? Und wenn es so käme, würden die aktuellen Koroyd-Protektoren die möglichen Grenzwerte für den Ruck überhaupt einhalten?

Bis diese Fragen in offizieller Weise beantwortet werden können, werden sicher Jahre vergehen – wenn es überhaupt dazu kommt. Vermutlich käme nur dann Bewegung in die Sache, wenn sich eindeutig abzeichnen würde, dass es bei Crashs mit Koroyd-Protektoren im Gurtzeug signifikant häufiger zu Rückenverletzungen kommt. Allerdings will man niemandem wünschen, mit einem gebrochenen Rücken zum Teil dieser Statistik zu werden.

Was bleibt derzeit den Piloten? Vorerst nur eine Bauchentscheidung bei der Wahl des Gurtzeugs: Vertraue ich auf jahrelang bewährte Protektorbauweisen, oder bin ich bereit, für einen möglichen aerodynamischen Leistungsgewinn dünnere Koroyd-Protektoren zu akzeptieren? Das Risiko, dass an der Ruck-Problematik vielleicht doch etwas dran sein könnte, fliegt dann immer mit.


Hinweis: Die Ruck-Problematik stellt die Sicherheit von Protektoren mit Koroyd-Technologie nicht allgemein infrage. Die hier beschriebene Diskussion fokussiert sich auf den spezifischen Einsatzfall Gurtzeugprotektor unterm Sitz, bei dem es um die Dämpfung eines Einschlags mit Krafteinwirkung längs der Körperachse bzw. Wirbelsäule geht. 


Dass ich auf Lu-Glidz auch solche kritischeren Themen aus der Gleitschirmszene ausleuchten kann, hängt damit zusammen, dass ich Lu-Glidz nicht durch Werbung finanziere. Damit wahre ich meine Unabhänigkeit. Wenn Dir das wertvoll erscheint, dann unterstütze doch meine Arbeit als Förderer