Bei einem Leichtgurtzeug sind beim Retterwurf im Rahmen eines Sicherheitstrainings nicht tragende Stoffteile gerissen. Wie konnte es dazu kommen, und was sagt der Hersteller dazu?

Das Rückenteil eines Easiness 3 von Advance nach einem Retterwurf.
Die tragende Gurtkonstruktion im Hintergrund ist intakt. Aber der dünne
Oberstoff ist entlang der Nähte eingerissen.
// Quelle: Facebook, Gruppe: Gleitschirm Sicherheit, D. Loritz
Der Drang hin zu immer leichterer Ausrüstung hat auch seine Kehrseiten. Bei leichten Gurtzeugen zum Beispiel sind die Stoffe zwangsläufig dünner. Wenn diese dann einer nicht alltäglichen Belastung ausgesetzt werden, kann das schon mal zerstörerisch wirken. Man hört ein lautes Rrrratsch, man spürt vieleicht noch einen ungewöhnlichen Ruck und sitzt danach nicht mehr so bequem wie zuvor. An irgendeiner Stelle ist Stoff unter eine Zugbelastung gekommen, der er nicht mehr gewachsen war. Bevorzugt treten die Schäden entlang von Nähten auf, an denen der dünne Stoff durch die Nadelstiche bereits vorgeschwächt ist.

Sicherheitsrelevant ist das in der Regel nicht – zumindest nicht in der Form, dass der Pilot selbst durch den Schaden gefährdet war. In jedem Gurtzeug gibt es im Hintergrund eine sehr stabile Konstruktion von Bändern, die den Piloten auch dann halten, wenn vordergründig der optisch schöne Oberstoff schon reißt. Beim Festigkeitstest eines Gurtzeugs im Rahmen der Zulassung ist es auch nur dieser tragende "Gurtkäfig", der allen Belastungen standhalten muss.

Dennoch sind solche Schäden ärgerlich. Denn häufig wird man den Flug nur sehr unbequem fortsetzen können – allein schon vom Kopfe her, wenn dort der Eindruck vorherrscht: "mein Gurtzeug reißt". Ärgerlich ist auch, dass in solchen Fällen das beschädigte Gurtzeug im Grunde irreparabel ist, oder zumindest nicht zu einem annehmbaren Preis. Der Riss wird mitunter zum Totalschaden, bei dem nicht einmal die Garantie des Herstellers greift.

Kürzlich wurde auf Facebook in einer Gruppe zum Thema Gleitschirmsicherheit ein Fall diskutiert, bei dem ein Pilot im Sicherheitstraining testhalber aus einer Klapperspirale heraus seinen Notschirm warf. Auch da machte es Rrrratsch, und bei dem Leichtgurtzeug Easiness 3 von Advance war der Stoff des Rückenteils zerrissen. Ähnliches sei mit Modellen dieser Gurtzeugserie schon mehrfach in seinen Trainings passiert, kommentierte der Sicherheitstrainer und stellte Advance an den Pranger.

Lu-Glidz nahm das zum Anlass einmal bei Advance direkt nachzufragen, wie dort dieser Vorfall, aber auch allgemein das Thema Sicherheit und Haltbarkeit von Leichtgurtzeugen gesehen wird. Nachfolgend die offiziellen Antworten von Advance auf meine Anfrage. 


Wie kann es aus Sicht von Advance zu derlei Schadensbildern kommen?
Advance: Solche Schäden an Stoffteilen von Gurtzeugen können bei Retterwürfen in sehr seltenen Fällen und unter bestimmten Konstellationen auftreten. Es handelt sich um eine Kombination von mehreren Faktoren wie asymmetrische Initialbelastung auf die Verbindungsgurte und Aufhängungspunkte, Schocköffnungen z.B. bei hoher Rotationsgeschwindigkeit, Position des Piloten im Gurtzeug usw. Solche Schäden treten bei Leichtprodukten eher auf als bei "Standardprodukten". Davon sind nicht nur Advance Produkte betroffen, sondern auch Gurtzeuge anderer Marken, wie uns mehrere bekannte Sicherheitstrainer mit viel Erfahrung bestätigt haben.
Da der Pilot aus Komfortgründen nicht direkt auf den tragenden Gurten sitzt, sondern diese leicht lose hinter der Sitzschale (bestehend aus Schaum und Stoff) verlaufen, können die oben beschriebenen Faktoren zu einer übermäßigen Belastung von punktuellen Stoffteilen führen. Solche Schäden entstehen auch bei den Belastungstests anlässlich der Zulassung eines Gurtzeuges, wohlverstanden am zugelassenen Muster. Sie sind also keinesfalls sicherheitsrelevant.
Selbstverständlich sind wir bemüht, aufgrund solcher Vorkommnisse unsere Produkte und Verarbeitungsmethoden laufend zu verbessern. Neue Erkenntnisse fließen permanent mit ein. Trotzdem kann nicht ausgeschlossen werden, dass es nach wie vor Einzelfälle gibt, wo eine solche Beschädigung durch Überbelastung auftritt.


Wie sicherheitsrelevant sind solche Schäden?
Advance: Alle uns bekannten und durch uns begutachteten Fällen waren in keiner Weise sicherheitsrelevant. Wie bereits oben beschrieben, wird der Pilot von einem tragenden Gurtsystem dermaßen umgeben, dass er auch ohne jeglichen Stoff niemals aus dem Gurtzeug fallen könnte. Die Stoffteile dienen primär dem Komfort und der optischen Verschalung, sie haben absolut keine tragende Funktion.


Wie geht Advance mit Kunden um, die entsprechende Schäden melden. Fällt ein solcher Schaden unter die Garantie des Gurtzeugs?
Advance: Dies ist individuell und hängt von der Beurteilung des einzelnen Falles ab. Ein solcher Schaden kann zu verständlichem Unmut beim Kunden führen, weil es weder ein Fabrikationsfehler ist, noch ein Verschulden des Piloten vorliegt. Da es sich um Überbelastung handelt, fällt ein solcher Defekt grundsätzlich nicht unter Garantie. Trotzdem ist es für den Kunden eine ärgerliche Situation. Deshalb sind wir bestrebt, uns in solchen Fällen kulant zu verhalten und gemeinsam mit dem Kunden eine zufriedenstellende Lösung zu finden. Aber das können wir nur tun, wenn sich Betroffene bei uns melden und uns das Gurtzeug zusenden.


Welche Möglichkeiten haben Kunden, solche Schäden an ihrem Gurtzeug auszuschließen?
Advance: Das ist primär ein persönliches Abwägen. Jeder Retterwurf nach einem Manöver beinhaltet grundsätzlich eine unberechenbare Komponente und in Ausnahmefällen können übermäßige und nicht kontrollierbaren Kräfte auftreten. Beim Retterwurf an einem SIKU im Normalflug kann dies praktisch ausgeschlossen werden.
Es besteht also bei einem Wurf anlässlich eines Manöver ein sehr kleines Restrisiko, dass dabei eine Beschädigung an einem Leichtgurtzeug auftreten kann. Auf der anderen Seite macht es selbstverständlich Sinn, den Retter auch mal unter realen Bedingungen an einem SIKU zu werfen.
Es liegt schlussendlich im Ermessen des Piloten, ob er das sehr kleine Restrisiko in Kauf nehmen will oder ob er den Retter über Wasser aus dem Normalflug wirft oder für das SIKU ein anderes als ein Leichtgurtzeug verwendet. 
Eine weitere sehr sinnvolle Methode ist übrigens der G-Force Trainer. Dort kann das Auslösen des Retters bei hoher Rotationsgeschwindigkeit und folglich unter erschwerten Bedingungen sehr gut geübt und immer wieder wiederholt werden.


Muss bei Leichtgurtzeugtypen wie dem Easiness schon der Leichtigkeit wegen mit einer deutlich verringerten Haltbarkeit gerechnet werden?
Advance: Es liegt auf der Hand, dass ein Leichtgurtzeug bei identischer Verwendung nicht die gleiche Haltbarkeit bzw. Lebensdauer wie ein "normales" Gurtzeug aufweisen kann. Leichtprodukte erfordern einen deutlich sorgfältigeren Umgang. Bei entsprechender Vorsicht können jedoch auch Leichtprodukte dem Piloten lange Freude bereiten.
Das Risiko von Beschädigungen eben z.B. durch Überbelastung ist bei Leichtprodukten klar höher als bei Standardprodukten, dies übrigens nicht nur während SIKUS, sondern auch in anderen Situationen wie z.B. beim Schleifen des Materials über den Boden, bei Landungen auf dem Hintern usw., oder am Beispiel von Gleitschirmen, wenn sie nach der Landung auf die Eintrittskante fallen. Die meisten Piloten sind sich jedoch dessen bewusst und kaufen trotzdem ein Leichtprodukt, weil schlussendlich die Vorteile für sie überwiegen.
Die Herausforderung für uns bei Advance und alle anderen Hersteller liegt darin, Leichtprodukte immer weiter zu verbessern und punktuell zu verstärken, aber auch nach anderen Möglichkeiten zu suchen, um das Gewicht weiter zu reduzieren. Dabei lernen wir aus Erfahrungen und aufgetretenen Problemen aus der Vergangenheit. Dies ist ein laufender Prozess, welcher den Entwicklungsfortschritt ausdrückt.