Moderne Protektoren vom Typ Koroyd und vergleichbare Varianten liegen weit über NASA-Empfehlungen für einen maximalen "Ruck"
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Vergleich der G-Messungen des Koroyd-Protektors eines Ozone Submarine (blaue Kurve) und des Schaumstoffprotektor eines Kortel Kannibal 2 (rot). Der besonders steile Anstieg der blauen Kurve zeigt den starken physikalischen Ruck. // Quelle: E. Zsolt, bearbeitet
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Seit zwei Jahren wird in der Gleitschirmszene über Sicherheitsbedenken bei Protektoren diskutiert, die statt Schaumstoff oder Airbag auf verkrumpelnde Röhrchen und ähnliche Strukturen als Dämpfungselemente setzen. Hierzu hat Lu-Glidz schon mehrfach berichtet:
Kürzlich hat der ungarische PWC-Pilot Ero Zsolt, der auch einer Arbeitsgruppe der CIVL zum Thema Gleitschirm-Gurtzeugen angehört, eine Studie veröffentlicht, in welcher er die Problematik noch fundierter beschreibt.
Sein Fazit: Die Norm für Gurtzeug-Protektoren sollte dringend geändert werden, um künftig auch den sogenannten "Ruck" (im physikalischen Sinn) bei einem Aufprall zu berücksichtigen und dafür Grenzwerte festzuschreiben.
Protektornorm kennt keine Grenzwerte für den Ruck
Bisher gibt es in der Protektornorm nur Grenzwerte für die maximale Beschleunigung (G-Kraft), die auf den Test-Dummy wirken darf. Der physikalische Ruck, im Englischen "Jerk" genannt, ist hingegen ein Maß dafür, wie schnell sich die Beschleunigungswerte über die Zeit ändern.
Zsolt verweist auf Studien der US-Raumfahrtbehörde NASA, wonach Jerk eine entscheidende Größe für die menschliche Überlebensfähigkeit bei starken Beschleunigungen ist – wie zum Beispiel der Auslösung eines Schleudersitzes. Die Nasa-Studien empfehlen eine maximale Jerk-Grenze von 1300 G/s für 15 G Beschleunigung und 500 G/s für 33 G Beschleunigung.
Bei den bisher üblichen Protektortests wird der physikalische Ruck weder gezielt gemessen noch sonstwie ermittelt. Ero Zsolt zeigt aber eine Möglichkeit, wie sich die Werte auf Basis vorhandener Messschriebe näherungsweise ableiten lassen.
Auf veröffentlichte Messkurven verschiedener Protektoren angewendet, weist er nach: Klassische Protektoren, aus Schaumstoff oder als Airbag ausgeführt, bleiben in puncto Jerk typischerweise unterhalb der Nasa-Empfehlungswerte von 1300 G/s. Die neuartigen Krumpel-Protektoren hingegen übertreffen diese Grenze um mehr als das Vierfache.
Ein Ruck von mehr als 5000 G/s
Beispielsweise liegen die von Zsolt ermittelten Jerk-Werte der Protektoren verschiedener Wettbewerbs-Gurtzeuge bei:
- Gin Genie Race 5: 5369 G/sec
- Niviuk Drifter 2: 7511 G/sec
- Ozone Submarine: 8033 G/sec
Dies liegt daran, dass deren Protektoren (Koroyd bei Genie Race 5 und Submarine, Orikami beim Drifter 2) zu Beginn der Kompression eine sehr steilen Anstieg der gemessenen G-Werte aufweisen, was zu einem abrupten Stoß auf den Körper führt. Wirkt dieser in Längsrichtung der Wirbelsäule, steigt die Gefahr von Kompressionsbrüchen und anderen Verletzungen.
Protektordicke mindestens 10 cm?
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Die neueste Variante Neo Koroyd 3 ist nur 8 cm dick. // Quelle: Neo
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Eric Roussel, Chef der französischen Marke Neo und treibende Kraft hinter der Entwicklung der Koroyd-Dämpfungstechnologie für Gleitschirmgurtzeuge, propagiert Koroyd als ideales Protektormaterial, weil es durch die dauerhafte mechanische Verformung konstante Verzögerungswerte und keinen Rückprall aufweist. Dadurch reicht den
Koroyd-Protektoren schon eine Bauhöhe von deutlich unter zehn Zentimetern aus, um die EN-Protektornorm zu erfüllen.
Gleiches gilt für die vom Wirkprinzip vergleichbaren Protektortechnologien
Orikami (Niviuk Drifter 2) und Alumina+ (
Nova Artus). Sie ermöglichen jeweils das Design von besonders aerodynamischen Gurtzeugen.
Würde in einer neuen Protektornorm auch der physikalische Ruck als zu testendes Merkmal festgeschrieben und dafür Grenzwerte auf Basis der Nasa-Empfehlungen festgelegt, hätten Koroyd & Co allerdings wohl kaum noch eine Chance, in Gurtzeugen verbaut zu werden.
Laut einer Beispielrechnung von Ero Zsolt ist es zwar theoretisch möglich, die geltende EN-Norm mit einem Protektor von nur 5,3 cm Dicke zu erfüllen. Sobald man aber den Ruck als Sicherheitsfaktor mit berücksichtig, wäre das ausgeschlossen. Zsolt empfiehlt, 10 cm als Mindestdicke für Protektoren in der Norm festzuschreiben.
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2 Kommentare
Was noch dazu kommt, ist das die Nasa für ihre Tests ja freiwillige benutzt hat.
AntwortenLöschenDas sind in der Regel eher junge sportliche Draufgänger (in der Grafik 17-27 Jahre).
Die Piloten die ich bis jetzt in einem Submarine gesehen habe, entsprechen dieser Kategorie meist nicht mehr wirklich. D.h. selbst die 1300 G/sec sind schon sehr sehr Grenzwertig für uns Paragleiter.
Dazu kommt dann aber auch noch, dass es bei den Nasa Tests ja vorallem um Beschleunigung in formstabilen Sitzen geht (Schleudersitz und Raketen Start)
Wir aber in den Bergen auf unförmigen Gelände aufschlagen.
Eine sehr grenzwertige Entwicklung
"Wer das Spiel ändern will, muss die Regeln ändern, nicht die Spieler kritisieren" ist hierzu wie so oft mein Gedanke. Ergo: die Hersteller befinden sich in einem "race to the bottom", welches derjenige verliert, der freiwillig zu Gunsten der Sicherheit auf aerodynamische Vorteile verzichtet. Geändert werden muss deswegen, wie im Artikel schon angedeutet, die Zulassungsnorm, damit alle Hersteller das Bestmögliche aus den (die Sicherheit der Piloten berücksichtigenden) Regeln rausholen können.
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