Ein Pilot beim Retterwurf-Experiment. // Quelle: Matt Wilkes |
Jüngst hat Matt eine Studie durchgeführt, die einen viel direkteren Praxisbezug hat und deren Ergebnisse möglicherweise (und hoffentlich) ein viel größeres Echo in der Szene hervorrufen werden. Es geht um die Ergonomie des Gleitschirmretterwurfes und die Frage, welchen Tücken die Piloten in stressigen Notfall-Situationen gegenüber stehen, und wie sich manche Probleme von vornherein durch ein optimiertes Gurtzeug-Design vermeiden ließen.
Matt Wilkes machte im Rahmen der Studie ein Experiment in Zusammenarbeit mit einem britischen Gleitschirmclub. Dessen Mitglieder führen einmal im Jahr ein Rettertraining durch, bei dem in einer Turnhalle eine Seilrutsche installiert wird. Während des "Abgleitens" in ihrem Gurtzeug am Seil müssen die Piloten ihren Retter ziehen. Matt nutzte dieses Event, um mit zwei an der Rutsche installierten Kameras die Reaktionen und Handlungen der Piloten unter Stress genau zu erfassen. Anschließend analysierte er Reaktionszeiten, Griff- und Blickrichtungen, Wurfarten, mögliche Probleme und erfolgreiche Retteröffnungen. Zudem diskutierte er seine Beobachtungen und Erkenntnisse mit Sicherheitstrainern und anderen Experten..
55 Probanden, darunter drei Frauen, nahmen an dem Experiment teil. Das Durchschnittsalter lag bei 49 Jahren, die Flugerfahrung im Schnitt bei vier Jahren. 71 Prozent nutzten Sitz-, der Rest Liegegurtzeuge. Etwa die Hälfte hatte noch nie in der Praxis oder im Training eine Rettung geworfen. Matt Wilkes sieht darin eine gute Stichprobe für typische Ottonormalpiloten.
Wie das genaue Setting des Experimentes war und welche Ergebnisse es lieferte, berichtet Matt in einem rund halbstündigen Youtube-Video (siehe unten). Es lohnt sich, dieses Video komplett anzuschauen (wobei man dafür des Englischen mächtig sein sollte).
Im Folgenden eine Zusammenfassung der fünf wichtigsten Erkenntnisse und Empfehlungen:
1. Rettertraining: Jeder Pilot sollte regelmäßig in Trainings mal die Rettung ziehen. Zum einen, um die zugehörigen Bewegungsabläufe zumindest ansatzweise schon zu kennen. Zum anderen, um die Funktionsweise des eigenen Gurtzeug-Retter-Setups zu überprüfen. Im Rahmen des Experiments konnten zwei der 55 Probanden den Retter nicht erfolgreich auslösen. In einem echten Notfall hätte so etwas böse enden können.
Der erste Griff des Piloten geht instinktiv an die Hüfte. Der Rettergriff ist bei vielen Gurtzeugen suboptimal platziert. // Quelle: M. Wilkes |
3. Zugrichtung: Die meisten Probanden zogen den Rettergriff instinktiv nach oben bzw. seitlich hinten-oben. Diese offenbar "natürliche" Auslöserichtung, bei der man aus der Schulter heraus auch die größte Kraft entwickeln kann, sollte deshalb vom Gurtzeug problemlos unterstützt werden. Allerdings gibt es noch immer etliche Modelle am Markt, deren Container nur dann eine schnelle Auslöse ermöglichen, wenn der Retter erst einmal seitlich herausgezogen wird. Solche Gurtzeuge sind nicht zu empfehlen. Denn im Experiment zeigte sich auch: Wenn die Retter im Gurtzeug blockierten, zogen die Piloten als nächstes nur umso gewaltsamer nach oben, was wertvolle Zeit kostete.
4. Frontcontainer: Bei Frontrettungscontainern ist die Handbewegung der Piloten zum Rettungsgriff sehr zielgerichtet, weil der Griff direkt im Blickfeld liegt. Bei manchen Frontcontainern gibt es aber ein Problem. Durch den Zug am Rettungsgriff wird der gesamte Container nach vorne oder oben gezogen, ohne direkt auszulösen. Das kann soweit gehen, dass irgendwann die Armlänge nicht mehr ausreicht. Als Abhilfe müssten Frontcontainer nicht nur an den Karabinern eingehängt, sondern auch noch mit einem dritten Abspannungspunkt nach unten verzurrt werden, um besser fixiert zu sein. Alternativ wären Frontcontainer mit seitlichen Griffen und seitlicher Auslöse eine gute Wahl.
Bei einem "zweistufigen" Wurf mit zusätzlichem Schwungholen hat sich der Innencontainer verfrüht geöffnet. |
Die Experimente lieferten noch einige weitere Erkenntnisse, die in dem Video zur Retterwurf-Studie aufgeführt sind. Das Video (erstellt vom britischen Vlogger Andre Bandarra) ist auf Youtube zu finden:
Wenn Du noch mehr Hintergründiges rund um das Thema Retter erfahren willst, so empfehle ich auch die Lektüre der früheren Beiträge der Serie Retterwissen auf Lu-Glidz.
3 comments
Absolut sehenswertes Video. Ich wünsche mir mehr wissenschaftliche Untersuchungen und Entwicklungen zur Gleitschirmsicherheit. Wenn man sich anschaut wie die zivile Luftfahrt sich in den letzten hundert Jahren entwickelt hat kann man nur staunen und hoffen, dass wir die wissenschaftliche Herangehensweise so gut wie möglich auf unseren Sport übertragen.
AntwortenLöschenDieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
AntwortenLöschenNicht nur wissenschaftliche Untersuchungen. Vielleicht lässt sich das System auch verbessern? Mal schauen, was aus diesem Prototyp wird: https://www.youtube.com/watch?v=fUWiKeU57dA&list=TLPQMjMxMTIwMTnnrogZZsmujw&index=1 (keine Werbung, das Produkt gibt es (noch) nicht in Serie. Bin gespannt, ob Ihr etwas davon hält und ob es Erfolg haben könnte.
AntwortenLöschenhttps://www.youtube.com/watch?v=fUWiKeU57dA&list=TLPQMjMxMTIwMTnnrogZZsmujw&index=1
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